Ludwigstr.

Frühjahr und schönes Wetter fordern neue Klamotten. Die aus dem letzten Jahr dürfen es nicht sein, denn die sind ja nicht neu. Und nicht modern. Passend, wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigt, zu diesem Wahn wird oben auf den Pilastern in sechs Bildern ein altes Märchen erzählt.

Es geht um hochnäsige Beamte, schlitzohrige Gauner, die ihr Geschäft schon damals mit der Eitelkeit der Leute machten …

… und darum, daß Wahrheit oft ganz einfach ist. Man muß nur richtig hinsehen und aussprechen, was man sieht, egal, was die anderen sagen.

Martinstr.

Viel hilft viel, scheint man hier gedacht zu haben. Man könnte allerdings auch denken, daß man es mit dem Brandschutz bei diesem Gebäude nicht so genau genommen hat, da unbedingt damit zu rechnen ist, daß hier bald Feuerwehrwagen stehen werden.

Brückenstr.

Deutsch ist eine schwere Sprache. Deshalb sind dem Azubi des Schildermalers die Zeilen und zwei Buchstaben verrutscht. „Motorräder/Fahrräder: Erstellen von Privatparkplatz verboten!“, sollte da eigentlich stehen, und das ist natürlich sehr umständlich ausgedrückt. Gemeint ist: „Öffentlicher Stellplatz für Motorräder/Fahrräder“. Kevin ist aber auch erst im dritten Lehrjahr.

Im Hauptbahnhof

„Das Shopping-Erlebnis Bahnhof liegt im Trend.“, heißt es auf der Seite der Deutschen Bundesbahn, und da Ostern naht und weil es dem Geschäft zuträglich ist, wird auch hier versucht, festliche frühlingshafte Stimmung zu erzeugen. Zwischen den Narzissen rammelt der Rammler versteckt der Hase bunte Eier für die Kleinen, und die Großen können sich schon mal ausmalen, welches Stück Festtagsbraten auf dem Tisch kommt: Eisbein, zartes Filet oder durchwachsenes Kotlett zum Grillen?

Kleine Brinkgasse

Anfang der 50er Jahre waren die beiden Enden dieser Gasse mitten in der Innenstadt mit versetzten Mauern verstellt, der Zugang war nur männlichen Bürgern erlaubt, ähnlich der Herbertstr. in Hamburg. Ein Zeitzeuge erinnert sich:

„Als Pänz vun drücksehn, veezehn Johre, sin mer jään ens durch de Brinkjass un de Nächelsjass flaneet. Do jov et jet ze sinn. Nommedachs loche do de Huusfraue-Nutte en wießer Ungerwäsch em Finster un leete ehre Memme üvver de Britz hange. Uns feele de Auge usm Kopp.
Kalibere kunns du do aanjeseechtich weede. Do leever Jott! Die Wiever däte och met uns Spökes drieve.
Mer soche vielleich och jet älder us wie mer wore.
Äver rinjejange sin mer nie.
Uns däte ehschtens de Nüsele fähle un dann hatte mer – jläuv ich – och jet Schess för dä Vollwiever.“ (Kelong)

Übersetzung: „Als Kinder von dreizehn, vierzehn Jahren sind wir gern mal durch die Brinkgasse und die Nächelsgasse flaniert. Da gab es was zu sehen! Nachmittags lagen da die Hausfrauennutten in weißer Unterwäsche im Fenster und ließen ihren Busen über die Brüstung hängen. Uns fielen die Augen aus dem Kopf. Da konnte man Kaliber sehen! Du lieber Gott! Die Frauen trieben auch mit uns ihre Späßchen.
Wir sahen vielleicht auch älter aus, als wir waren.
Aber hineingegangen sind wir nie.
Uns fehlte erstens das Geld, und dann hatten wir – glaube ich – auch Schiß vor den Vollweibern.“

Mal abgesehen davon, daß dem Berichterstatter immer noch der Sabber aus dem Mund zu laufen scheint: So ändern sich die Zeiten. Heute rollt man in der Gasse einen roten Teppich aus, um allen Konsumenten das Geld aus der Tasche zu ziehen, auch den Frauen. Das bringt einfach mehr.

PS: Apropos Hamburg: Ich bin ein paar Tage weg, nachschauen, ob die Herbertstr. noch steht. Bis nächste Woche.

Vorm Zoogeschäft

Man kauft 10 Stück, und wenn man sie zu Hause ins Terrarium setzen will, sind nur noch 5 da – genial, jedenfalls für den Umsatz des Zoogeschäfts. Und wenn die übrigen sich gegenseitig gefressen haben, bleibt nur noch eine übrig, die dann an Hunger stirbt, wenn man nicht nachfüttert – mit neuen Schnecken. Vielleicht sind dafür die Apfelschnecken gut? Quasi eine Selbstauflösung ad infinitum – eine Art überlebt nur, indem sie sich schier endlos selbst vernichtet … kommt mir irgenwie bekannt vor: Diese Schnecken müssen eine menschliche Züchtung sein.
Das Geschäftsmodell gibt es übrigens schon lange, auch wenn sonst nicht so offen damit geworben wird. Gerade erst habe ich in einer TV-Doku gesehen, daß Mitte des 20. Jahrhunderts mal ein Amerikaner ernsthaft die Idee hatte, alle Waren mit einem gesetzlichen Verfallsdatum zu versehen: Man kauft z.B. einen Stuhl (Tisch/Kühlschrank/Auto usw.), und nach einem halben Jahr muß man ihn zum Müll geben, egal, in welchem Zustand er ist, und einen neuen kaufen. Nur so ließe sich Wachstum aufrecht erhalten. Das Gesetz hatte natürlich keine Chance, ist ja lächerlich … man hat die Waren dann gleich so hergestellt, daß sie nicht lange halten. Kaum gekauft, schon kaputt – die Schnecken können eigentlich keine Häuser haben, der ganze Hausrat würde über kurz oder lang keinen Platz mehr lassen für anderes im Terrarium.

Goldgasse

Wenn die Schwalben tief fliegen, gibt es Gewitter, heißt es. Und was bedeuten hoch hängende Fahrräder? Daß bald Frühling ist? Die Räder werden nervös und wollen endlich wieder los und laufen, und wenn sie ungeduldig an den Ketten reißen und nicht aufpassen, geht es schon mal über die Brüstung. Traurig. Ein Fahrrad macht jedenfalls noch keinen Sommer, das kann ich mit Sicherheit sagen, angesichts des Wetters der letzten Tage.

Die Goldgasse ist ein passender Rahmen für das bedauernswerte Gefährt: Ein kurzer vierspuriger Zubringer zum Hinterhof des Hauptbahnhofs. Links außerhalb des Bildes ist der häßliche provisorische Musical-Dom, auf dessen Abriß ich schon lange hoffe, welcher aber immer wieder verschoben wird. Das Kommerz-Hotel hat einen neuen Anstrich, hilft aber nicht viel: Immer noch ein grauer Stiftzahn in einem maroden Gebiß. Die Vertreter, die von ihren Firmen da einquartiert werden, wissen spätestens jetzt, daß man nicht viel von ihnen hält. Immerhin können sie in schlaflosen Nächten die an- und abfahrenden Züge, Busse und Taxis zählen, für Vehiclespotting ist dieser Ort ideal.
Wie kommt diese Straße bloß zu ihrem Namen? Zwei Erklärungen gibt es: Hier soll mal ein Goldschmied gewerkelt haben – klingt naheliegend. Die andere Erklärung riecht mehr nach Köln: Hier haben früher die von den Kölnern so genannten Goldgräber (oder „Joldjräber“) gewohnt. Und was waren die wohl von Beruf? Genau, Latrinenreiniger.

Breite Str.

100 freie Minuten für nur 19,95 „motl.“, und ein Handy gibt es als Zugabe? Ist ja Wahnsinn! Allerdings gibt es woanders viel mehr freie Zeit ganz umsonst, und von technischen Geräten bleibt man auch weitgehend verschont. Aber da steht ja: „Nur hier“, wenn man einfach nicht hingeht, besteht keine Gefahr.

„Also, Kevin“, hat der Chef vom Handygeschäft gesagt, „du bist jetzt im 3. Lehrjahr, wird Zeit, daß Du das Werbeplakat für diese Woche gestaltest.“ Und Kevin hat ganze Arbeit geleistet, von seinem Plakat werden sogar Fotos veröffentlicht!

Altstadtkneipe am Rhein

Ein Touristenrestaurant / -kneipe am Altstadtufer des Rheins, in dem es kaum einen Platz an der Wand gibt, wo kein Politikerfoto hängt, mag dem einen oder anderen – besonders Jüngeren – merkwürdig vorkommen. Und dann dieser Name: „Ständige Vertretung“ …

Das kam so: Anfang der 70er Jahre bemühten sich die Politiker der beiden deutschen Staaten DDR und BRD um eine entspanntere Beziehung und fanden es gut, Botschaften in den jeweiligen Hauptstädten einzurichten, also in Bonn und in Berlin (Ost). Eine Botschaft darf aber nur in einem souveränen Staat installiert werden, die DDR war in den Augen der BRD-Politiker und nach den Buchstaben des Grundgesetzes alles andere als souverän. Was tun? Ganz einfach: Man nennt die Einrichtung einfach um, die Botschaft heißt nicht mehr Botschaft, sondern „Ständige Vertretung“. Nach 1990 brauchte man die natürlich nicht mehr, die „Ständigen Vertretungen“ in Berlin (Ost) und Bonn waren überflüssig geworden, und der größte Teil der Bundesregierung samt anhängender Behörden zog um nach Berlin (West). Das paßte den Bonnern gar nicht, allein die Kaufkraft, die da wegzieht, vom Bedeutungsverlust und der Staatsknete mal ganz zu schweigen, aber es half alles nichts. Einer der Kämpfer gegen den Umzug machte aus der Not eine Tugend: Wenn nun die vielen verbeamteten Rheinländer nach Berlin ziehen, so dachte er, wollen die doch bestimmt nicht auf die einzigartigen rheinischen Spezialitäten („Blootworsch, Kölsch un lecker Mädsche“) verzichten, und machte dort im Regierungsviertel eine Kneipe auf, die er sinnigerweise „Ständige Vertretung“ nannte – eine Botschaft rheinischer Lebensweise im preußisch-protestantischem Berlin. Das hatte und hat so viel Erfolg, daß inzwischen quasi eine Kette (mit Lizenznehmern) daraus geworden ist: Es gibt nun auch eine „Ständige Vertretung“ in Hamburg, Hannover, Bremen – und in Köln. Das ist natürlich ein wenig merkwürdig, eine Botschaft für die rheinische Lebensart in der größten Stadt des Rheinlandes zu eröffnen, aber egal, hauptsache, der Rubel rollt.
Außerhalb der Hochsaison kann man da ganz gemütlich sitzen, das Essen ist das Übliche, wie in allen anderen Gaststätten der Altstadt – erträglich und zu teuer. Daran ändert auch ein Gebet zum Heiligen Joschka nichts.