Das Museum Tinguely wurde 1996 eröffnet. Es ist ein Geschenk der Pharmafirma Roche zu ihrem eigenen 100-jährigen Jubiläum an die Stadt – und natürlich auch ein Unterbringungsort für die Kunstwerke, die die Firma bis dahin gesammelt hatte. Das kennen wir ja auch schon von anderen Mäzenen: Die Damen und Herren Multimillionäre und -milliardäre finden Kurzweil im Sammeln von Kunst, und da für sie kein Preis zu hoch ist, schaffen sie sich eine meist sehenswerte Bilder- und Skulpturenkollektion an, für deren Unterbringung und Ausstellung dann die Öffentliche Hand aufkommen muß. Letzteres hier nicht: Auch der Betrieb des Museums wird komplett von Roche finanziert. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß Roche ein paar Etagen unter dem Museum, also tief in der Erde, eine Wasseraufbereitungsanlage erbaut hat, wo das Wasser gereinigt wird, das die Firma dem Rhein für eigene Produktionszwecke entnimmt.
Zum Zeitpunkt der Eröffnung war der Schweizer Künstler Jean Tinguely (1925-1991) schon fünf Jahre tot, aber er hatte es noch miterlebt, daß man ihm und seiner Kunst zu Ehren dieses Haus errichten wollte. Das war durchaus keine Selbstverständlichkeit: In seinen frühen Künstlertagen war Tinguely das, was man einen Bürgerschreck nannte (ich weiß gar nicht, ob der Ausdruck heute noch gebräuchlich ist).
So hat er z.B. vorm Mailänder Dom eine große verhüllte Skulptur errichten lassen, die sich nach der Enthüllung als erigierter Penis samt Hoden zu erkennen gab (Foto links; die Testikel sind mit vergoldeten Plastikfrüchten behängt – Details können ja manchmal wichtig sein). Als ob das nicht schon reichte, ließ der Künstler die Skulptur noch während der Veranstaltung von innen abbrennen (Foto rechts), ohne vorher die Feuerwehr oder andere offiziellen Stellen darüber informiert zu haben. Der ganze Spaß kostete 12.000 Dollar (damals noch um einiges mehr wert als heute), die aus der eigenen Tasche und von Sponsoren und Freunden aufgebracht wurden.
Die Phase der sich selbst vernichtenden Werke nahm um 1960 allerdings nur eine kurze Spanne im Leben des Künstlers ein – diese (von Ad Petersen dokumentierte) Aktion von 1970 mit dem Titel „La Vittoria“ (Der Sieg) war im späteren Werk eher eine Ausnahme.
Zusammen mit anderen Künstlern gründete Tinguely 1960 die Gruppe „Nouveau Réalisme“ (Neuer Realismus), sozusagen als Gegenbewegung zum den Kunstmarkt beherrschenden „Abstrakten Expressionismus“. Sie wollten wieder Gegenständliches schaffen, aber nicht in der Art traditioneller Bildhauerei. Sie sahen sich eher als Erneuerer und Fortführer der Kunst von Marcel Duchamp mit seinen „ready mades“ und der Dadaisten in den 10er und 20er Jahren. Der Künstler César z.B. presste Autowracks zu neuen Skulpturen zusammen, Arman goß den Inhalt von Abfalltonnen und Papierkörben in gläserne Rahmen, Daniel Spoerri klebte alle Gegenstände, die nach einer Feier oder einem Essen auf dem Tisch verblieben waren (also sämtliches Geschirr, aber auch Flaschen, Brotreste, Servietten und Zigarettenstummel), fest und hängte die Tischplatten an die Wand (=Fallenbilder).
Man verfaßte Manifeste und organisierte gemeinsame Ausstellungen.
Tinguely sammelte Schrott, schweißte und schraubte die Teile zusammen und brachte sie mit kleinen Elektromotoren in Bewegung. So ist im Museum fast jedes Werk mit einem Trittknopf versehen, wenn man ihn aktiviert, bewegt sich was – sehr hübsch, ein großer Spaß, nicht nur für Kinder. Allerdings muß man etwas Geduld mitbringen: Die Kunstwerke sind natürlich sehr verschleiß- und daher wartungsanfällig. Um ihre Funktionsfähigkeit (bis zur nächsten Wartung) zu erhalten, müssen nach einer jeweiligen Aktivierung durch die Besucher erst sieben Minuten vergehen, bevor der Mechanismus erneut in Gang gesetzt werden kann.
Bei den Beispielen oben und unten werden sogar automatisch gezeichnete Kunstwerke erzeugt.
Spätestens in den 70ern war Tinguely nicht nur weltweit, sondern sogar in der etwas gemächlichen Schweiz anerkannt als der bedeutendste Schöpfer kinetischer Kunst, und so wurde er auch auf der Baseler Kunstmesse gehandelt. Ein Galerist erzählte später, daß es manchmal sehr nervig gewesen sei, wenn man einem Kunden feinsinnig von der Qualität eines impressionistischen Gemäldes überzeugen wollte und dann plötzlich am übernächsten Stand eine von Tinguelys Maschinen loslärmte.
In einem dunklen Raum mit unheimlichen Schattenwürfen rattern einige Werke mit Teilen von Tierskleletten bedrückend vor sich hin. Diese Ansammlung von Maschinen heißt „Mengele-Totentanz“. In Tinguelys Nachbarschaft war in einer gewaltigen Feuersbrunst ein Bauernhof komplett abgebrannt, auch die Tiere waren nicht mehr zu retten. Mit Erlaubnis des Besitzers durfte Tinguely sich ein paar Tage später auf dem Grundstück umsehen. Es stank noch immer nach verbranntem Fleisch (wie er später erzählte), während er die Überbleibsel der Maschinen und Tiere einsammelte. Unter anderem fand er eine Herstellungsplakette der Firma Mengele: Der Vater und die Brüder des berüchtigten KZ-Arztes Josef Mengele hatten Landmaschinen produziert. Totentanz erinnert an eine aus Basel bekannte mittelalterliche Darstellungsform des Todes: Skelette scheinen die zu Tode Bestimmten anzutanzen (hier sieht man eine Kopie).
Die größte, sogar begehbare Maschine (ihr werdet gleich im Film noch mehr davon sehen). Tinguely hatte sie für eine spezielle Ausstellung gebaut und geplant, daß die Besucher über sie in das nächste Stockwerk gelangen, aber das wurde aus Sicherheitsgründen nicht gestattet.
Genug geredet: Man muß die Bewegungen sehen und hören, deswegen habe ich einen kleinen Film für euch zusammengestellt. Die ersten Szenen sind vom Fasnachtsbrunnen mitten in der Stadt (die Figuren stammen von Schrottresten des abgerissenen Theaters, das an der Stelle vorher stand), die anderen aus dem Museum. Viel Spaß!
Ende.