Liebe Leute, kürzlich bin ich in Rente gegangen, habe also endlich Zeit im Überfluß. Deswegen geht es jetzt hier weiter – mal schauen, ob das überhaupt noch jemanden interessiert.

Kürzlich waren wir auf einer stadthistorischen Führung auf dem Neumarkt, es ging um die Veränderung der Randbebauung des Platzes durch die Jahrhunderte. Als die junge Führerin gefragt wurde, was denn das für eine Statue sei, die da vor dem Eingang des Kunsthauses Lempertz steht, hatte sie keine Ahnung. Ich hätte sofort einspringen können, aber verpasste den Augenblick. Ich habe es hier noch nicht erwähnt, aber ich bin eigentlich gelernter Kunsthistoriker, und während meiner Studienzeit habe ich mal eine kleine Hausarbeit über die Plastik geschrieben. Wir sollten uns irgendein Kunstwerk aus einem Kölner Museum aussuchen, und ich wählte die 110 cm hohe Replik der Statue, die damals im Wallraf-Richartz-Museum stand (und wohl auch noch immer steht).

Der Dargestellte ist der auch schon zu seinen Lebzeiten bekannte und beliebte französische Schriftsteller Honoré de Balzac (1799 – 1850). Er war erster Vorsitzender einer Schriftstellervereinigung, die Anfang der 1890er Jahre den Auftrag gab, eine Statue zu seinen Ehren aufzustellen. Die Wahl fiel schließlich auf den zu seiner Zeit nicht unumstrittenen Bildhauer Auguste Rodin (1840 – 1917), der versprach, das Werk zügig zu gestalten. Er gab sich viel Mühe, las erst das ganze Werk (die aus 91 Romanen bestehende „Comédie Humain“) und reiste an den Geburtsort des Schriftstellers. Nach mehreren Vorstudien …

… beispielsweise diese hier in vermutlich doch recht naturalistischer Ansicht (Foto aus Wikipedia), wurde die drei Meter hohe Endversion erst nach mehreren Jahren 1897 in Gips fertiggestellt – und von der Schriftstellervereinigung prompt abgelehnt. Rodin nahm das Modell wieder in sein Atelier. Erst 22 Jahre nach seinem Tod, also 1939, wurde ein Bronzeabguss gefertigt und an einer Pariser Straßenkreuzung aufgestellt. Rodin gilt inzwischen als einer der bedeutendsten Bildhauer der Vormoderne. Die Version, die jetzt in Köln steht, ist einer der wenigen Abgüsse des Originalabgusses.

Und was soll das, wieso steht die hier? Haben Balzac oder Rodin irgendeine Beziehung zu Köln, weshalb man sie hier besonders ehren möchte? Nein, nicht im Geringsten. Der Grund ist folgender: Der Neumarkt, das Herz Kölns, hat ein Drogenproblem. Der Platz und die Nebenstraßen sind Treffpunkt für Drogenabhängige und Dealer. Die bevorzugte Droge, die hier gehandelt wird, ist inzwischen Crack, nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren, Heroin. Die Wirkung von Crack ist nicht weniger verheerend als von Heroin, allerdings nach seiner Einnahme viel kürzer, weshalb die Süchtigen schnell wieder auf der Suche sind nach neuem erbetteltem Geld und neuen Deals. Die Leute sind völlig heruntergekommen, liegen verlottert und mit zum Teil offenen Wunden in Hauseingängen, auf dem Platz und in den Nebenstraßen – und liefern so natürlich keinen schönen Anblick, weder für die Einheimischen noch für die Touristen. Deshalb ist man bemüht, die Gegend aufzuwerten, die Aufenthaltsqualität soll sich bessern. Man hat also einen neuen Brunnen angelegt und auf dem Platz ein mobiles Café eröffnet. Und als weitere Aufwertungsmaßnahme hat man der Besitzerfamilie des Kunsthauses Lempertz bereits im Jahr 2022 erlaubt, diese Plastik aufzustellen, die sich in ihrem Besitz befindet. Soweit ich das beobachtet habe, zeigen sich die Drogenabhängigen und die Dealer davon gänzlich unbeeindruckt.

Die städtische Kommission, die alle zwei Jahre beurteilen soll, ob sich das Kunstwerk auch gut macht an dieser Stelle, kommt zu einem positiven Urteil, moniert lediglich, daß der Standort, da so am Rand halb versteckt, nicht optimal sei.

Dem kann ich nur zustimmen.
Hier folgt jetzt eine Abschrift meiner Hausarbeit aus dem Jahr 1992. Falls sie euch interessiert.
1. Beschreibung
Auguste Rodins (1840 – 1917) Denkmal für den Dichter Honoré de Balzac (1799 – 1850) ist im Wallraf-Richartz-Museum Köln als Bronzeguß der Endfassungsstudie mit einer Höhe von 110 cm zu besichtigen. Die Standfigur steht auf einer quadratischen Sockelplatte. Der Dichter ist in einem kuttenähnlichen Mantel dargestellt, der fast den ganzen Köper bedeckt; die Ärmel hängen leer an den Seiten herab, die Arme scheinen ausgestreckt unter dem Mantel gekreuzt zu sein und vor der Mitte des Körpers die Mantelöffnung zuzuhalten.
Da der Mantelsaum den Boden berührt und nur Teile der Füße freiläßt, die durch ihre Stellung einen Schritt nach links andeuten, entstehen sich nach oben bis zu den Schultern verbreiternde Umrißlinien, die von der pyramidalen Kopfform zusammengeführt werden. Im unteren Bereich fällt der Mantel in zum Teil weichen Kurvenfalten um die erahnbaren, einen Keil bildenden Beine, wird aber nach links durch die hart modellierte und ein wenig freistehende Kante der Mantelöffnung abgeschlossen, die einen Ausgleich zu der etwas schräg nach hinten gebeugten Gestalt bildet.
Die Kantenlinie verläuft schräg nach oben zur rechten Schulter, ab ca. der Mitte des Köpers, wo sie sich mit der Kante des komplementären Mantelteils kreuzt, in den Kragen übergehend, der durch einen scharfen Knick leicht absteht.

Die vertikalen Linien des Gewandes werden ab der Körpermitte durch die angedeutete Haltung der Arme und durch die einen dreieckigen Halsausschnitt freilassenden Hemd- und Mantelkragen in einer Gabelung zu den leicht angespannten, hochgezogenen Schultern geführt.
Der hohe Mantelkragen, der auf der Rückseite der Figur fast bis zur Mitte des Hinterkopfes reicht, scheint an einigen Stellen mit den langen Haaren zu verfließen. Der Kopf ist nach links gedreht und leicht nach hinten geworfen. Das wirre, zum Teil blockhafte, die Verdichtung der Mantelstruktur aufnehmende Haar bildet über der linken Stirnseite einen Wirbel, der einen Teil der Stirn freigibt und die Haare strähnig nach vorn und zur Seite leitet. Stark hervorspringende, auf die Nasenwurzel hin angeschrägte Stirnwülste und gratige Augenbrauen „überdachen“ tiefliegende Augenhöhlen. Unter der kantigen Nase sind geschwungener Oberlippenbart, wulstiger Mund und geformtes Kinn. Wangen und – sofern man davon überhaupt reden kann – Hals sind eine voluminöse, teigige und zerklüftete Masse.

Die scharfen Kanten der Falten besonders des rechten Ärmels unterstützen den vertikalen, nach oben strebenden, gespannten Charakter der ganzen Gestalt.
Die raue, unebene, zum Teil zerklüftete Oberfläche und die scharfkantigen Falten und Linien, die abrupte Wechsel von Höhen und Tiefen an der Oberfläche verursachen, schaffen einen sehr reichhaltigen Wechsel von Licht- und Schattenzonen, die sich bei sich ändernder Beleuchtung, bzw. beim Herumgehen um die Plastik ebenfalls beständig ändern. Aufgrund dieser malerischen Behandlung spricht man von einer impressionistischen Plastik.
Der Bronzeguß ist die Nr. 11 einer auf zwölf Exemplare begrenzten Auflage von 1961 und wurde 1962 dem Wallraf-Richartz-Museum geschenkt.
2. Deutungsansatz
Die Plastik zeichnet sich aus durch harmonisch zueinander gestellte Gegensätze, deren Spannungen sich dem Betrachter mitteilen: Die unruhige, reichhaltige Licht- und Schattenwechsel produzierende, malerisch gestaltete Oberfläche ist gegensätzlich zur blockhaften, wuchtigen Geschlossenheit der Gestalt. Die gespannte Beugung nach hinten, der verhaltene Schritt, die Drehung des Kopfes und das angespannte Vorziehen der Schultern stehen in ihrer Andeutung des Momenthaften im Kontrast zur felshaften Schwere, die die Haltung zugleich majestätisch, nachdenklich und souverän erscheinen läßt.
Rodin selbst sagt zu seiner Arbeitsweise: „Er (der Bildhauer) muß die geistige Ähnlichkeit zum Ausdruck bringen können, darauf kommt es allein an. Der Bildhauer muß hinter der Ähnlichkeit der Maske die der Seele suchen. Kurz, alle Züge müssen ‚ausdrucksvoll‘ sein, das heißt, sie müssen helfen, seelisches Leben anschaulich zu machen.“
Wir müssen uns also, nach Rodin, Balzac als eine der Persönlichkeiten vorstellen, deren vermutete innere Zerissenheit, verbunden mit außerordentlicher Schöpfungskraft zu jener Vorstellung von Genialität führt, die schon seit einigen Jahrhunderten und auch heute noch vorherrschend ist. Tatsächlich entspricht dies dem Bild eines Zeitgenossen Balzacs: „Sein Äußeres war so ungepflegt wie sein Genie. Er war eine Elementargestalt: großer Kopf, wirres Haar, das auf Kragen und Wangen fiel wie eine Mähne, die niemals von einer Schere gelichtet wurde, stumpfe Züge, dicke Lippen, ein sanfter, doch feuriger Blick … Er war dick, schwer, breit an der Basis und breitschultrig: Hals, Brust, Leib, Schenkel, Gliedmaßen waren mächtig. Ausladend (…), doch ohne jede Schwerfälligkeit: die Seele war so groß, daß sie all das leicht, heiter, wie eine weiche Hülle trug.“ (Alphonse de Lemartine)
Angesichts der Schwierigkeiten, die Rodin Zeit seines Lebens mit dem Ringen um neue Formen und Inhalte und der entsprechend mangelnden öffentlichen Anerkennung seines Werkes hatte, halte ich die folgende Annahme, die immer wieder in der Literatur über Rodin auftaucht, für wahrscheinlich: Rodin habe sich während seiner Arbeit an dem Denkmal immer mehr mit Balzac identifiziert. Stimmt diese Vermutung, so kann man die Plastik hinsichtlich des ja darzustellenden Wesens auch als geistiges Selbstbildnis bewerten.
3. Werkgenese / Rezeption
Im Jahre 1885 schrieb die „Société des Gens de Lettres“ einen Wettbewerb für ein Grabmal ihres ersten Präsidenten, Honoré de Balzac (1799 – 1850), aus. Den Zuschlag erhielt der Bildhauer Chapu, der vor Vollendung des Werkes 1891 starb. Der Wettbewerb wurde erneut ausgeschrieben und der Auftrag unter besonderem Einsatz des Präsidenten der „Société“, Emile Zola“, Rodin erteilt.
Rodin machte bis zur vorliegenden Endfassung ca. fünfzig plastische Studien für Kopf, Akt- und Gewandgestalt nach sämtlich erreichbaren Bildnissen Balzacs und nach Modellen, deren jeweilige Figur der des Dichters ähnelte. Darüber hinaus studierte er nicht nur sein Werk und Leben, er ging sogar so weit, bei dessen Schneider einen Umhang in Balzacs Maßen anfertigen zu lassen. Eine besondere Schwierigkeit erwuchs vor allem daraus, daß des Dichters unförmiges Erscheinungsbild allem klassischen Regelmaß widersprach, weshalb er bisher fast nur in Sitzhaltung dargestellt worden war.
Das Modell der Endfassung in Gips (das Vorlage der hier besprochenen Plastik ist) wurde 1898 im „Salon Nationale des Artistes“ ausgestellt und von der „Société“ abgelehnt.
Das große, 300 cm hohe Gipsdenkmal steht im Musée Rodin in Paris. Erst 1939 wurde ein 300 cm großer Bronzeguß in Paris an der Kreuzung Boulevard Raspail / Boulevard Montmartre aufgestellt.
Die Ablehnung der „Société des Gens de Lettre“ begleitete eine Pressefehde, die Rodin schließlich enttäuscht veranlaßte, nicht auf Einhaltung seines Vertrages zu bestehen. So zog er zurück, was er selbst für eins seiner besten Werke hielt.
Dem Publikum war das Werk zu unähnlich, unfertig, unausgearbeitet. Man bemängelte allgemein das Fehlen zeitgenössischer Kleidung, bezeichnete den Dominikanermantel (in einem solchen pflegt Balzac nachweislich zu arbeiten) als „Sack“, der des großen Dichters nicht würdig sei.