Spaziergänge in Zeiten von Corona (4)

Besorgte Bürger beim Gespräch mit dem Corona-Beauftragten der Stadt. Ja, so jemanden hat nicht jeder. Die Lage ist aber auch unübersichtlich: Ein Virus, das es gar nicht gibt, wurde wahlweise in chinesischen oder amerikanischen Labors gezüchtet und wird durch 5G-Mobilfunkmasten aktiviert, weshalb man sie unbedingt abfackeln muß. Bill Gates, der die Weltgesundheitsbehörde (WHO) in Genf gekauft hat, will einerseits viel Geld mit einem Impfstoff verdienen, wofür er das Virus überhaupt in die Welt gesetzt hat, andererseits will er mit einer von ihm verordneten Zwangsimpfung einen Chip in die Menschen transplantieren, um die Weltherrschaft zu übernehmen, unter Umständen im Auftrag einer geheimen (jüdischen?) Untergrundweltregierung („deep state“) – wirklich wahr, ich sah jemanden herumlaufen mit einem Schild „Gib Gates keine Chance“, in Anlehnung an den Slogan „Gib Aids keine Chance“. Und am 15. Mai ruft die Bundesregierung eine Diktatur aus, sagt ein durch das Fernsehen bekannter Koch.  Also Morgen (schnell nochmal Klopapier kaufen, bevor es wieder wochenlang keins gibt). Wie wird das ablaufen? Stellt sich die Kanzlerin, wie einst Philipp Scheidemann, an ein Fenster und ruft mit ihrer dünnen Stimme: „Ich rufe die Diktatur aus!“? Im Bundeskanzleramt? Ich befürchte, da wird sie keiner hören, da halten sich meist nur wenig Leute auf. Ich glaube, das wird nichts. Für eine Diktaturausrufung braucht man mindestens eine Stimme wie die von Söder. Und der hat’s nicht nötig, weil er im Moment (irrerweise) eh hoch angesehen ist, das wird er nicht riskieren wollen.

Das ist auch bekannt als Ursache-Wirkung-Prinzip, vor über 2000 Jahren hat Aristoteles darüber bereits philosophiert, aber wenn man ein paar fernöstliche Schriftzeichen darunter setzt, sieht es gleich ungeheuer bedeutend aus. „Denkschrott als erlesene Kostbarkeit […] präsentieren“ (W. Pohrt) – darin übte sich jüngst auch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble: „Die [Würde des Menschen] ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Ah ja. Es folgten – keine chinesischen Schriftzeichen, sondern heftige Diskussionen darüber, was das für Corona-Opfer bedeutet. Der Grünen-Vorsitzende Habeck sprach bewundernd von „Altersweisheit“ (was nicht für ihn spricht). Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen Boris Palmer legte nach: Wieso soll man Leute behandeln und retten, die wahrscheinlich sowieso in einem halben Jahr sterben, weil sie über einem bestimmten Alter liegen – was für eine Verschwendung an Ressourcen, zu Lasten anderer, die es vielleicht nötiger haben! Hau weg den Scheiß, die Alten haben schließlich schon lange genug gelebt, nehmen den Jüngeren den Lebensraum und blockieren wirtschaftlichen Wohlstand. Der australische Philosoph Peter Singer argumentiert ähnlich: Sollten sich die Alten nicht die Frage stellen, ob sie, die doch ein erfülltes Leben gelebt hätten, sich nicht vielleicht opfern, damit die Wirtschaft, und damit der Wohlstand einer ganzen Gesellschaft, wieder prosperieren kann? Ja, das ist nicht schön, daß eineR, der oder die sich so gerade über Wasser halten konnte, nun seine oder ihre Arbeit verliert, nur damit jemand, der 60 oder mehr Jahre alt ist, weiterleben kann. Egoisten! Wo ist da die Opferbereitschaft? Die naheliegende Frage, ob da vielleicht was am kapitalistischen System nicht stimmt, wird nicht gestellt. In Deutschland sind die „Egoisten“ über 23 Millionen Einwohner, über ein Viertel der Bevölkerung. All die, die eine entdeckte oder unentdeckte Vorerkrankung haben und unter 60 sind, sind noch nicht mitgezählt: Asthma, Herz-Kreislauf, Krebs, Aids, Adipositas, Diabetis – tja, das Leben ist endlich, so ist das nun mal, und Geschäfte müssen weiterlaufen, sonst verdienen die Reichen … äh, die Leute ja nichts mehr. Die Immobilienkonzerne machen sich inzwischen ernsthaft Sorgen um ausbleibende Mieten – irgendwann muß man die Leute rausklagen, nein, was für ein Ärger!

Schon früh wurde gewarnt und gemahnt angesichts den Einschränkungen der Grundrechte. Jacob Augstein, der Herausgeber der Wochenzeitung „Der Freitag“, wunderte sich, wie widerspruchslos die deutsche Bevölkerung das hinnahm. Andere Intellektuelle, wie beispielsweise die Autorin Julie Zeh, bliesen ins gleiche Horn. Und sie haben recht, man muß aufpassen: Sehr schnell (und überflüssigerweise) zog der NRW-Ministerpräsident Erwin Laschet eine Notverordnung aus dem Hut, nach der Ärzte im Falle einer Pandemie zum Dienst zwangsverpflichtet werden sollten; Gesundheitsminister Spahn plante eine personalisierte Corona-App mit genau nachvollziehbaren Bewegungsmustern. Beides ist gescheitert, was einerseits zeigt, daß die demokratischen Kontrollmechanismen funktionieren, andererseits jedoch auch belegt, wie schnell Politiker bereit sind, Gesetze in einer Notlage zu erlassen, die dauerhaft Grundrechte einschränken. Leider lassen die Kritiker eine Alternative meist vermissen: Wie, bitte, soll man denn umgehen mit dem Virus ohne behördliche Einschränkungen?

An die Vernunft der Bevölkerung appellieren? Wir brauchen uns doch nur die tausenden Idioten anzuschauen, die in Stuttgart und anderswo gegen Bill Gates demonstrieren, um zu wissen, daß das nicht funktioniert. Die Leute wollen endlich wieder ungehindert ihren Tätigkeiten nachgehen (durchaus verständlich, wenn sie damit ihren Unterhalt verdienen), und sie wollen feiern, also zusammen saufen und grillen, und shoppen, wenn das nicht geht, fühlen sie sich in ihrer Freiheit in einem unerträglichen Maß eingeschränkt. Das Virus feiert dann mit.

Oder, ein weiter Vorschlag: Wir schützen die Angehörigen der Risikogruppe, damit alle anderen risikofrei wirtschaften können – und dabei automatisch eine Herdenimmunität erzeugen. Hurra, alles wird wieder wie vorher, die Geschäfte laufen wieder, hoffentlich. Aber wie schützen wir die Risikogruppe? Durch Isolation – wie gesagt, über 23 Millionen, weit über ein Viertel der deutschen Bevölkerung. Wie will man das schaffen, wenn man es nicht mal hinkriegt, Altersheime virenfrei zu halten?

Ich befürchte, uns wird nichts anderes übrig bleiben, als bis zur Entwicklung eines Impfstoffes vorsichtig zu bleiben. Wenn auch nur die geringe Möglichkeit besteht, daß eine Maske in Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln hilft, dann sollten wir eine tragen. Bis jetzt halte ich das Vorgehen der Bundesregierung für vernünftig, verhältnismäßig und erfolgreich. Man braucht ja nur die Anzahl der Verstorbenen mit denen aus anderen Ländern zu vergleichen. Was mir eher Sorgen macht, sind die neoliberal-schnellen wirtschaftsfreundlichen Lockerungen der Ministerpräsidenten. Wir können nur hoffen, daß eine zweite Welle ausbleibt. Ich bin sehr skeptisch.

„Frage: Was ist schlimmer als eine Voraussage, die nicht eintrifft?
Antwort: Eine Voraussage, die sich schneller als erwartet erfüllt.“
(Frederik Pohl: Rückkehr nach Gateway)

21 Gedanken zu “Spaziergänge in Zeiten von Corona (4)

        1. USA: 85.000; GB: 33.000; Italien: 31.000 usw., alles Corona-Todesfälle, insgesamt bis jetzt ungefähr 300.000. „Alles Lüge, so viele sind’s gar nicht!“, schreien sofort einige. Wieviel weniger sind es denn, 2.000? 20.000? Na, dann können wir ja beruhigt sein, dann ist es ja gar nicht so schlimm.

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  1. Dein Sarkasmus in allen Ehren und das meine ich ernst, aber du warst nie und wirst nie sein, eine allein erziehende Mutter im Homeoffice mit kleinen Kindern und keiner wahren Aussicht auf einem baldigen Ende.
    Von daher Vorsicht!

    Irgendwann werden vielleicht die Zahl der Selbstmordtoten, die der Coronatoten weit überwiegen. Aber gut, wer braucht schon die Dünnhäutigen, die Weicheier, die Überempfindlichen?
    Jetzt kommt eben das große Sieben. Und vielleicht ist es ja ohnehin „drüben“ schöner, wenn nur das lästige Sterben nicht wäre.

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    1. Das weiß ich doch auch. Aber bisher war es Konsens in unserer Gesellschaft, daß wir Leid und Krankheiten lindern und heilen, jedenfalls war und ist das unser ethischer Anspruch. Wenn wir dazu übergehen, die Leidenden gegeneinander auszuspielen, haben wir ihn verloren. Gibt es keine anderen Lösungen für die Probleme einer Alleinerziehenden im Homeoffice, als über ein Viertel der Bevölkerung in Todesgefahr zu bringen? Natürlich gibt es die, aber sie kosten viel Geld.

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      1. Das ist alles gerade ganz ganz kompliziert. Es gibt so viel zu bedenken, so viele Details, so viele verschiedene Bedürfnisse.
        Ich kann echt so wenig dazu sagen, weil ich das Glück habe ohnehin so sehr „in meiner Klause“ zu sitzen, daß es mich nur am Rande betrifft.

        Aber eines ist man klar: Es gibt unendliche viele Menschen, die sich wirklich einen Kopp machen und sich echt bemühen, die Leiden und Nöte anderer zu lindern! Und das ist eine große Sache! Wir Menschen sind doch viel weniger mega-Egoisten, als wir einander unterstellt haben.

        Ich finde es z.B. fantastisch, daß wir ohne irgendeinen Antrag und ohne großartiges Tamtam ganz selbstverständlich erleben durften, daß unsere Tochter ihr Abi ALLEINE mit zwei Lehrern im Raum schreiben durfte und so ohne Kontakte zu anderen, weil wir als Eltern zur Risikogruppe gehören.
        Ich bin gerührt über die liebevollen kleinen Tische in Supermärkten mit Spendern von Masken, Handschuhen und Desinfektionsgel und einem Schild dazu „Bleiben Sie gesund!“

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  2. Bei der einen Pandemie sind es die Jungen, die Kinder, bei der anderen die Alten, das gleicht sich aus. Wer jeweils die Rechte derer einfordert, die gerade weniger betroffen sind, muss sich klar machen, dass nächstes Jahr vielleicht alles schon wieder ganz anders ist. Diese Pandemie wird nicht die letzte sein, auch wenn wir uns das wünschen und ohne Solidarität werden wir sie nicht bewältigen.

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    1. Ja, das seh ich auch so. Der völlig unaufgeregte Journalist Dirk Steffens (Terrra X) sagte neulich in einem Interview, seiner Ansicht nach würden die Pandemien zukünftig zunehmen, da die natürlichen Lebensräume von Wildtieren immer kleiner werden durch menschlichen Raubbau, was zur Folge hat, daß Tiere – die unrsprünglichen Virenträger – und Menschen immer mehr zusammenrücken, was wiederum zu einem häufigeren Übersprung auf Menschen führen wird. Wäre doch ganz schön, wenn die Verantwortlichen aus der jetzigen Krise lernen würden, daß es sie letzlich mehr kostet, als sie durch die Naturvernichtung gewinnen.

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  3. Darf ich mal den Spieß umdrehen? Im Sinne von „Nein, es ist nicht schön, dass eine/r, der/die über 40 Jahre geschuftet hat, seinen Ruhestand nicht mehr genießen kann, weil er sein LEBEN an Corona verliert.“

    Und wenn man alle Alten isolieren will, dann kann man auch gleich die mit isolieren, die in sogenannten Generationenhäusern zusammenleben oder sich eine Wohnung mit pflegebedürftigen Angehörigen teilen. Das dürften dann erheblich mehr werden als 23 Millionen. Meine Wenigkeit inbegriffen. So eine Kasernierung möchte ich nun wirklich nicht haben.

    Lieber laufe ich mit der Maske durch die Gegend, auch wenn ich wegen der Pollen im Moment weniger gut durchatmen kann und die Brille beim Tragen der Maske beschlägt.

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    1. Genau. Eigentlich braucht man nur zurückfragen: Wenn ihr soweit seid, opfert ihr euch dann auch? 60 wird man schneller, als man glaubt, ich weiß es aus eigener Erfahrung.

      Die Isolation von Risikogruppen halte ich für eine Schnapsidee, realistisch nicht durchzusetzen. Selbst China hätte da Schwierigkeiten.

      Mich nervt die Maske auch. Aber daß sie tatsächlich Tropfen aus dem Mund zurückhält, weiß ja schon der gesunde Menschenverstand. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß sie hilft.

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      1. Wenn dann diese ganzen Protestler solidarisch auf die Impfung mit dem Wirkstoff gegen Corona verzichten, damit er denen zugute kommt, die sich an sämtliche Regeln gehalten haben, fände ich das nur konsequent.

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        1. Die Protestler setzen ja alles daran, Herdenimmunität zu erlangen, da sie Abstand und Masken für Unterdrückungsinstrumente halten. Man kann nur hoffen, daß sie sonst niemanden anstecken.

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  4. Servus, „alter“ Fernfreund!

    Wir sollten uns ganz einfach den Rat von Professor Trump
    zu Herzen nehmen und uns Desinfektionsmittel injizieren,
    dann könnten wir immunisiert-unbeschwert nächsten Donnerstag
    mit dem Bollerwagen besoffen durch die Gegend ziehn. (Vatertag)
    (Mal ganz unpathetisch gedacht..;-)

    Herzliche Grüße mit Kaffee und Zigarette
    aus der Küche!

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    1. Desinfektionsmittel sind ja zur Zeit Mangelware und sehr teuer. Ich habe mit zwei Flaschen Beck’s, oral zugeführt, gute Erfahrungen gemacht.

      Viele Grüße aus dem Homeoffice!

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  5. »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.« (Wolfgang Schäuble) – wahrhaft eine Altersweisheit von kollossaler Tiefsinnigkeit! Die Zusammenführung zweier fundamentaler Axiome, welche eins mit dem anderen in keinem Zusammenhang stehen, indem man sie einander gegenüberstellt – brillant! Ein Erkenntnistheorem von beinah konfuzianischer Qualität, sinngemäß vergleichbar mit »Der Papst ist katholisch. Aber das schließt nicht aus, dass Raider jetzt Twix heißt.« (孔夫子)

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    1. Ja, danke. Viele Leute sind aufgeregt, und das versteh ich ja auch, wenn es an die materielle Existenz geht. Aber es nützt nichts, die Vernunft im Hinterzimmer zu deponieren und unsachlich zu werden – die Schreierei der sogenannten Hygiene-Demonstranten geht eventuell nach hinten los. Ich wünsche es ihnen nicht.

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