Wandern auf dem Salzalpensteig (3): Bergen – Hochfelln


Am nächsten Morgen, pünktlich hat es aufgehört zu regnen, stehen wir um kurz vor neun an der Kasse der Seilbahn zum Hochfellngipfel – wo man uns mitteilt, daß sie aus Witterungsgründen nicht fahren wird. Wie bitte? Wir müssen da hoch, da fängt unsere Wanderung heute an! Die Mitarbeiterin empfiehlt uns, bis Ruhpolding mit dem Bus zu fahren und von da aus den Berg zu ersteigen, aber Ruhpolding ist unser heutiges Etappenziel, das macht gar keinen Sinn, wenn wir von da aus loslaufen, entgegengesetzt unserer Wanderstrecke, und dann wieder zurück. Es gibt auch einen anderen Weg, von dem uns unsere Unterlagen des Veranstalters aber abraten: Nur bei sehr guter Kondition (wovon zumindest bei mir nicht die Rede sein kann) und bei gutem Wetter (was ja nicht ist, sonst würde die Bahn ja fahren) sollte man diese Möglichkeit der Besteigung wählen. Aber was bleibt uns anderes übrig? Unser Gastgeber bringt uns freundlicherweise dahin zurück, wo er uns am Vortag abgeholt hat. Dreieinhalb bis vier Stunden zusätzliche Wanderzeit, ein Höhenunterschied von fast 1.000 Metern – oh no!


Es geht kräftig bergauf, aber wenn das Herz bis zum Hals schlägt, bleibt man eben öfter stehen und wartet darauf, bis es sich beruhigt. Meine Begleiterin behauptet, in den letzten Jahren wäre ich fitter gewesen, hm, vielleicht sollte ich aufhören zu rauchen. Den Wasserfall hätten wir nicht gesehen, wenn wir mit der Bahn gefahren wären. Immerhin. (zum Vergrößern: Aufs Bild klicken)

Schon schön, die Gegend und die Aussicht.

Wieder mal führt der Wanderweg über eine Alm, so nah an den Kühen vorbei, daß man sie berühren könnte. Wir bewegen uns vorsichtig und langsam und mit Respekt.

Die Warnung kommt erst hinterher – gut, daß wir schon an ihnen vorbei sind. Tatsächlich ist es wohl nur dann nicht ungefährlich, wenn die Kühe gerade gekalbt haben, sie wollen ihre Kinder schützen. Wieso man dann aber einen Wanderweg auch zu solchen Zeiten über so eine Alm führt, ist mir unverständlich. Aufmerksame Leser meines Blogs wissen bereits: Es finden jährlich mehr Menschen den Tod durch Kühe als durch Haiangriffe, kein Scherz.

Die aktuelle Gefahr folgt allerdings erst jetzt: Da links im Bild, in der unteren Hälfte, sieht man meine Begleiterin, wie sie gerade irgendwelche Laute des Erstaunens ausruft. Als ich an die Stelle komme, weiß ich, was sie meint – und erstarre: Unmöglich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Das was ich fühle, spottet jeder Beschreibung, aber ich will es versuchen: Vor mir ein unebener, felsiger, nasser – also rutschiger – Weg von ungefähr 60 cm Breite, der eine starke Neigung nach rechts hat, rechts daneben ein stark abschüssiger Abhang, kaum bewachsen, links eine senkrechte Felswand ohne jede Möglichkeit, sich festzuhalten, zehn Meter vor mir das weiße, nebelige Nichts: Der Weg, notdürftig in den Felsen gehauen, führt um eine Felsnase herum. Eine Welle von Panik durchflutete mich wie noch nie zuvor in meinem Leben, unmöglich, da weiterzugehen, ohne abzustürzen. Unschlüssig stehe ich da, was soll ich bloß machen? Zurückgehen? Wir sind schon knapp drei Stunden gewandert, meine Begleiterin hat die Stelle schon passiert, sie müßte sie also nochmal gehen – keine Option. Kurz kommt mir die Bergwacht in den Sinn, könnte die vielleicht einen Hubschrauber … lächerlich. Mir ist so elend zumute, ich könnte mich hinhocken und weinen vor Verzweiflung. Gleichzeitig packt mich eine große Wut: Dieser scheiß Wanderweg! Erst fährt die SCHEISS Seilbahn nicht, weil sie sich keinen Gewinn davon versprechen, dann lassen sie uns über diese SCHEISS Alm laufen und nehmen billigend in Kauf, daß ihre Kühe uns eventuell tottrampeln, und nun schicken sie uns in den sicheren Tod auf diesem SCHEISS abschüssigen Felsen – ich schreie laut „Scheiße Scheiße Scheiße“ – und merke, wie gut mir das tut. Ich muß da durch. Meine Begleiterin denkt, ich sei schon abgestürzt und ruft erschrocken, was los sei. Mit einer Mischung aus Todesangst und Wut taste ich mich langsam vor, weiterhin laut fluchend. Als ich um die Biegung komme, rät meine Begleiterin mir, ich solle vielleicht den zusammengefalteten Schirm in den Rucksack tun, dann könne ich mich besser festhalten (bei einem Sturz – sagt sie nicht, aber ich versteh schon) – verdutzt schaue ich auf meine linke Hand, der den Schirm hält, das war mir gar nicht klar. Aber natürlich ist es unmöglich, anzuhalten, den Rucksack abzunehmen usw. Während ich mich weiter vortaste, betrachte ich den Schirm und bemerke, daß er mir etwas gibt, mit dem ich nicht gerechnet habe: Trost. Ein vertrauter Gegenstand, an dem man sich festhalten kann, auch wenn er im Falle eines Absturzes eher hinderlich wäre. So müssen sich Kinder fühlen, die sich an ein Stofftier krallen, wenn sie Angst haben. Meine Begleiterin insistiert: Ob ich nicht vielleicht doch den Schirm … Himmel! Ich schwebe zwischen Tod und Leben und kann jetzt keine Grundsatzdiskussionen führen. Immer weiter fluchend verbiete ich ihr, mich  anzusprechen. Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich es endlich geschafft. Meine Begleiterin fand es übrigens nicht soo schlimm. Sie mußte auch schlucken, aber da seien doch Pflanzen gewesen, die einen bei einem Absturz aufgefangen hätten.

Manchmal erlebt man was, da sagt man hinterher: Das war eine schlimme Erfahrung, aber ich möchte sie nicht missen, ich habe einiges daraus gelernt. So ist es hier nicht. Das war eine Erfahrung, auf die ich gut verzichten könnte. Nächtelang habe ich noch von Abstürzen geträumt. Leute, Freunde, mein Rat: Geht hier nicht lang. Wenn die Seilbahn nicht fährt: Nehmt den Bus und verbummelt den Tag.

Manchmal begegnet man in der Stadt Menschen, die – scheinbar aggressiv – fluchend und schreiend durch die Straßen laufen – ich wechsle die Straßenseite und denke, was für verrückte Leute es gibt. Aber wahrscheinlich haben die bloß Angst, weiß ich jetzt.

Fortsetzung folgt.

15 Gedanken zu “Wandern auf dem Salzalpensteig (3): Bergen – Hochfelln

  1. Herrlich komisch geschrieben …
    auch ich kenne solche Momente vom Bergwandern mit meinen Eltern im Allgäu, diesem plötzlichen Ausgesetztsein und: da musst du jetzt trotzdem durch, die anderen warten schon … scheisse!
    Herzliche Morgengrüße vom Lu

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  2. wow, du bist mutiger als du selbst vermutest, bester schreibfreund.
    deinen erhöhten herzschlag habe ich beim lesen fast hören können.

    gespannt erwarte ich deine weiteren berichte.
    lieben dank für die spannung beim lesen und nachfühlen. 😉

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  3. Was für ein Abenteuer! Ich hatte Höhenangst, allein von deiner Schilderung. Ob der aufgespannte Schirm bei einem Absturz was genutzt hätte? Da habe ich den fliegenden Robert aus F.K. Waechters Antistruwwelpeter vor Augen „Fliegt er übers große Meer mit zwei Brötchen zum Verzehr.“

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    1. Ein Knirps – echte Qualitätsarbeit. Der wäre sicher nicht umgeschlagen. Ich hätte ihn freilich im Fallen noch aufspannen müssen … es war also doch gut, daß ich ihn in der Hand hatte. Das Argument reiche ich noch nach an meine Begleiterin.

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  4. Sehr plastisch geschrieben. Ich kann es mir genau vorstellen, ein Alptraum. Ich glaube, ich hätte den Teil des Weges einfach übersprungen. Das war ja wirklich nicht ungefährlich. Fast wie aus einem Bergrettungs-Dokufilm.
    Hoffe es kommen jetzt nicht noch mehr so Garstigkeiten…

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    1. Das stimmt, nicht ungefährlich. Es passieren auch immer wieder Unfälle, die Bergwacht hat gut zu tun. Wenn ich das vorher gewußt hätte, wie dieser Weg ist, hätte ich ihn auf jeden Fall übersprungen. Ein paar Garstigkeiten liegen noch vor uns, aber nicht mehr so schlimme, das war wirklich die übelste Stelle.

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      1. Gott sei Dank!
        Irgendwie schon ein bißchen kraß. Man müßte eigentlich meinen, wenn die Seilbahn nicht fährt, wird auch der Weg „geschlossen“.
        Vermutlich wäre ich krauchend den Weg gegangen…ich hatte zwischendurch den Gedanken an den Kumbu (Schreibweise?) Eisbruch in dem Buch/Film „In eisige Höhen“. Diese Abgründe und dann muß man über so ein wackliges Leiterchen. Nun ja, immerhin angeseilt.

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  5. PS: Nochmal zum Schirm, achäm, ich weiß nicht, ob der Satz: „Siehst du wie gut, daß ich meinen Knirps in der Hand hatte“ nicht auch noch für Aufziehereien über die nächsten Tage gesorgt hätte….;)

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