Sehen lernen am Offenbachplatz (und anderswo)

Manchmal, wenn ich moderne Kunst sehe, denke ich: Himmel! – das ist ja wohl an Banalität kaum zu überbieten! So auch bei diesem Holzrahmen, aber zu Unrecht: Das ist gar kein Kunstwerk, sondern Volksbildung: Seit 2008 reisen diese Rahmen durch Städte in Nordrhein-Westfalen, um die Stadtbewohner für ihre Lebensumwelt empfänglich zu machen.

„Die Kampagne will die Öffentlichkeit für die gebaute Umwelt sensibilisieren und die Bevölkerung stärker für die Belange der Baukultur gewinnen.“, steht auf der Homepage von „Sehenlernen“. Die Leute sollen aber nicht nur durch den Rahmen sehen, einen Ausschnitt wahrnehmen und die Supererleuchtung haben, die ihnen ohne Rahmen verwehrt geblieben wäre. Nein, um die jeweilige Ausstellung herum werden Seminare, Vorträge und Stadtführungen organisiert, an denen die Bürger kostenlos teilnehmen können. Das ist gar nicht schlecht gedacht, Aufklärung im besten Sinne. Ob die Leute auch Zeit dafür haben, steht auf einem anderen Blatt.

Auf dem Offenbachplatz zwischen den umstrittenen Theater- und Opernbauten stand das Hauptstück der Installation, es erinnert an eine alte Kamera. Es ist sogar begehbar …

… und im Dunkeln beleuchtet. Wenn man hineingeht, kann man hinausgucken und sich gegenseitig fotografieren. Hübsch.

0 Gedanken zu “Sehen lernen am Offenbachplatz (und anderswo)

  1. Ich mag sowas, ich mag alles, bei dem Blickwinkel verändert werden.
    Bei Keri Smith gab es auch den Tip, sich ein kleines Sichtfenster zu gestalten und damit Bildbände und Hefte durchzusehen und tatsächlich, das Ganze nur in Ausschnitten zu sehen, verändert alles. Probier’s mal aus!

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  2. Fotografie macht ja genau das – die Umwelt in Rechtecke packen. Das schärft tatsächlich den Blick, man muß nur aufpassen, denn gleichzeitig verändert sich noch etwas anderes: Das blickende Ich ist nicht mehr in der Welt, sondern steht ihr gegenüber. Die fragmentierte Welt erweckt den Eindruck, sie sei beherrschbar, kontrollierbar. Und das wiederum kann auf die allgemeine Wahrnehmung zurückschlagen: Wenn die Welt etwas ist, was der Kontrolle bedarf, dann ist es auch das Leben selbst, denn Welt ist Lebenswelt. Im schlechtesten Fall laufen wir alle total selbstkontrolliert durch die Gegend und wundern uns dann, wenn das Kontrollierte mit dem in Konflikt gerät, was sich nicht kontrollieren läßt: Dem jeweiligen Wesen. Kein Wunder, daß es so viele Neurotiker gibt.
    Habe ich gerade improvisiert, ist es halbwegs verständlich? Ich glaube, ich muß mal ein Buch darüber schreiben. 😉

    Die Idee mit den Sichtfenstern bei Bildbänden ist wirklich nicht schlecht, der Kunsthistoriker macht bei einer Bildbeschreibung eigentlich genau das, allerdings nur mit vorgestelltem Rahmen.

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  3. Hm, ich glaube, ich sehe das ganz anders.
    Ich habe das Gefühl, es ist gar nicht kontrollierbar, sondern eine totale Erweiterung. Ich lebe ja tagtäglich mit unendlichen vielen Fotos und Momentaufnahmen und natürlich weiß ich, daß das nicht die Realität darstellt, sondern nur den Blick von jemandem auf SEINE Realität. Aber das stört mich gar nicht. Fotografie ist für mich auch Kommunikation. Denk mal an Sion Fullana, er zeigt nicht DAS New York (das es eh nicht gibt), sondern sein NY, in vielen Facetten. Ich lasse mich darauf ein und irgendwie ist es auch wie ein Gespräch. Er erzählt Geschichten. Ich stöbere gerne durch Fotostreams, weil ich darin oft Geschichten finde. Mit Kontrolle hat das nichts zu tun. Oder meintest du was anderes?

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  4. Sehr guter Einwand, aber gar kein Widerspruch. Du hast völlig recht, eingefrorene Momente, ganz subjektive Augenblicke können eine Geschichte erzählen und auch viel von dem, der sie – mit geschärftem Blick auf einen Ausschnitt fokussiert – gemacht hat. Gleichzeitig und andererseits ist Fotografie auch immer eine Verdinglichung und Abgrenzung. Ich merke das an mir selbst, mit der Kamera bin ich immer Beobachter, fast nie Beteiligter. Die ambivalente Bedeutung ist vielleicht mit dem doppeldeutigen Wort Bannung gut umschrieben: Ich banne einen Augenblick, der stellvertretend steht für Lebensgeschichten, auf ein Foto und bewahre ihn dadurch, andererseits verbanne ich den Augenblick in ein von mir distanziertes Artefakt. Ich finde diese Ambivalenz superinteressant: Ich habe mich schon dabei ertappt, daß ein schöner Augenblick dadurch getrübt wurde, daß ich keine Kamera dabei hatte, um ihn festzuhalten. Im Augenblick des Genusses habe ich ihn als festgehaltene Vergangenheit in einem darstellbaren rechteckigen Rahmen schon vorweggenommen, die Gegenwart wird in ihrem Vollzug zur distanzierten Vergangenheit. Und in der Distanz werden die Dinge und Erlebnisse scheinbar kontrollierbarer, als im direkten Erleben.

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  5. Aha, sehr interessant, was du das schreibst und nun weiß ich auch, warum wir da so unterschiedlich empfinden:
    Das liegt an der Art, wie wir fotografieren. Du gehst dazu nach draußen, in die Öffentlichkeit, in die Stadt (zuweilen auch in die Natur). Ich nicht. Ich fotografiere (außer Svea und Federchen und zuweilen natürlich auch Christian) eigentlich immer nur „stille“ Objekte und viel mehr noch als selber Bilder zu machen, sehe ich mir die anderer an.
    Ich erlebe die Augenblicke, die du beschreibst, fast immer ohne die Kamera. Wenn ich ein Foto mache, dann ist es oft etwas, das ich bewußt vor die Linse bringe, um es zu zeigen. Ich fotografiere selten Situationen und wenn dann spontan und dann stört’s nicht.
    Ich stelle aber auch fest, daß mich diese Fotowelt beeinflußt. Oftmals habe ich den Wunsch etwas zu fotografieren, weil es sehr schön ist und in mein ästhetisches Bild paßt und ich sehe, das ist eine sehr weibliche Welt, die ganz fern ist von der Realität. C. hat mir das schon oft gesagt: Wenn man meinen Photostream durchsieht, dann sieht es aus, als lebe ich im „Auenland“ wie er das immer nennt: Sanfte Farben, unendliche Natur, ein freies, glückliches Kind, Kunst, Kleinigkeiten, Schönheit und immer wieder meine weibliche Welt aus Wolle, kreativsein, Holz, slow food, Büchern, Landleben etc.. Das ist eine Realität, die keine ist, die ständig alles Häßliche, Profane ausblendet. Durch Flickr browsend (brausend) sehe ich viele, viele dieser weiblichen Realitäten, so als hätten Frauen dauernd den Wunsch sich selbst ihre eigene Welt zu kreieren. Männer fotografieren ganz anders und sie sehen die Welt auch anders, sie heißen andere Fotos gut. Dort geht es um klare, eindringliche Ästhetik (etwa der Sonnenuntergang am Strand oder der Baum in Blüte), um krasse Gegensätze oder um interessante Effekte, oft um technische Spielereien, aber sie fotografieren nur selten ihr Umfeld auf eine Art und Weise, das permanent eine weltentfremdete Ästhetik dargestellt wird, außer in einem Bereich: Sex! Und dann fällt mir noch auf: Männer fotografieren andauernd ihre Freundinnen, immer und immer wieder und am liebsten in ALLEN möglichen Rollen, Situationen und Positionen. Frauen fotografieren aber nur selten ihre Männer. Sie fotografieren meist zu 30% sich selber, zu 30% ihre Kinder und Tiere, zu 25% ihre Werke und Einrichtung und nur etwa zu 5% ihre Männer, wenn überhaupt.

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  6. Ja, das ist mir auch schon aufgefallen, es gibt einerseits die eher dokumentarischen Fotos (die natürlich auch gut und schön sein wollen) und andererseits die eher ästhetisch motivierten Fotos (die natürlich nebenbei auch dokumentieren), und wahrscheinlich hast Du recht, wer mit seiner (oder besser: ihrer) Kamera „malt“, hat nicht die Kamera als Abstandhalter zwischen sich und dem Objekt. Als dokumentierender Fotograf ergibt sich die Distanz fast von selbst, und das ist gut und schlecht zugleich: Man schaut sich etwas mit analytischem Interesse an, was man sonst so detailliert nicht unbedingt gemacht hätte, aber das verhindert gleichzeitig, daß man die Situation mit-lebt.

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  7. Am krassesten geschieht das bei Leuten, die die Geburt ihres Kindes fotografieren wollen. Ich bin der Meinung, so etwas sollte man(n) nicht dokumentieren, abgesehen davon, daß Kinder solche Bilder hassen.
    Die arme Tochter von Vilsmeyer/Vavrova, die sich damals ihre eigene Geburt im Kino ansehen mußte (und das noch mit der Schulklasse!) Ein Alptraum!

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  8. sehr interessante diskussion, die sich aus dem „sehen lernen“ entwickelt hat, und für mich wäre es auch ok, wenn man es kunst nennen würde, denn diese rahmen setzen ja ganz offensichtlich ganz viel in bewegung, allein schon hier, nur auf fotos. nicht jeder und jede rennt ja mit so einem ästhetisierten blick durch die gegend wie „unsereins“, sag ich jetzt mal, sei er nun objektivierend, impressionistisch oder malerisch. find ich eine wirklich schöne aktion, und ich hab sehr gern darüber nachgedacht.

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  9. …ein gutes Vorhaben und bringt zudem auch noch Leben in die Stadt, vielleicht bleibt da doch mal einer stehen, wo er/sie sonst nur vorbeiläuft…
    aber warum müssen die Holzrahmen alle so hässlich sein?

    …und gibt es vor Ort eine Möglichkeit, seine Eindrücke zu offenbaren oder mit anderen auszutauschen?

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  10. Ich denke, sie müssen halt robust sein, weil sie ja ein paar Jahre lang durch’s Land touren. Was hättest Du anders gemacht?

    In Köln hat es um diese Aktion ca. 60 Veranstaltungen gegeben, darunter auch Führungen zu den einzelnen Sehstationen. Ich war nur kurz bei dr Eröffnung, zu mehr hatte ich keine Zeit.

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  11. Das ist eine gute Frage, ich hätte die Rahmen innen kleiner gemacht, so dass die Leute das Gefühl bekommen, sie müssen näher rangehen. Beim Herangehen hätten sie dann bemerken können, dass sich der Bildausschnitt vergrössert, je näher…

    Vielleicht hätte man auch eine Wand mit verschieden grossen Fenstern aufstellen können, von winzig bis gross…oder mit verschiedenen Formen, sehr schmale Ritze bis runde Löcher…
    Es reizt einfach, durch ein kleines Loch zu schauen, wärend es langweilig ist, durch ein riesiges Fenster zu blicken, weil man ja glaubt, sowieso schon alles dahinterliegende sehen zu können.

    ich hätte mir gewünscht, dass etwas spielerischer damit umgegangen worden wäre…

    und die Rahmen etwas fröhlicher bemalt…oder noch irgend etwas draufgeschrieben, dass die Leute anregt, sich damit zu beschäftigen…

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  12. Hey, gute Ideen, sie hätten dich fragen sollen. Da fällt mir ein, in dem rosaroten Rahmen haben sie sowas versucht, da hingen immer mal wieder Sonnenbrillen mit rosaroten Gläsern an Plastikschnüren im Rahmen, die wurden aber immer wieder abgerissen und geklaut.

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