Weihnachtsrummel

In dem phantastischen Roman „Der futurologische Kongreß“ von Stanislav Lem wird von einer Gesellschaft erzählt, die glaubt, in Wohlstand und Luxus zu leben. Tatsächlich werden aber unbemerkt Psychopharmaka in die Luft geblasen und über das Trinkwasser verabreicht, die die Wahrnehmung verändern. Die wenigen, die ein Gegenmittel haben, können sehen, daß die Bewohner in Wahrheit in elenden Hütten leben und kaum was zu Essen haben. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit ist eine Inszenierung.

Immer, wenn ich in der Vorweihnachtszeit durch die Stadt laufe, muß ich an den Roman denken. Kaum ein Schaufenster, das nicht aufdringlich weihnachtlich dekoriert ist, und sei es auch noch so absurd …

… wie z.B. in diesem Fachgeschäft für Rauchmelder, Warnwesten, Feuerlöscher und Lübecker Hütchen, die übrigens nicht aus Marzipan sind und garantiert als Geschenk ein großes Hallo! auslösen.

Alle Geschäftsstraßen sind „festlich“ erleuchtet, überall auf den unzähligen Weihnachtsmärkten und in den Geschäften läuft endlos ein schier unerträgliches Weihnachtsgedudel, und will man zu Hause, in einer weihnachtsfreien Umgebung, den schlappen Geist und Körper vorm Fernsehapparat entspannen, läuft auf allen Kanälen und in vielen Sendungen seichter Weihnachtskitsch, oder die Botschaft, daß sich Weihnachten unter dem Christbaum „entscheidet“, wer also das teuerste Geschenk bekommt.

Die Inszenierung „Weihnachten“ ist ein emotionaler Mißbrauch der zwischenmenschlichen Bedürnisse nach Geborgenheit und gemeinschaftsförderdem Ritual, allein zum Zweck der wirtschaftlichen Gewinnmaximierung. Nichts Neues, so manchen langweilt es schon, wenn man auf den „bösen“ Kommerz schimpft. Pastoren pfeifen harte Konsequenzen von den Kanzeln – und machen sich lächerlich, den tatsächlich sind sie nur sauer darüber, daß die wirtschaftliche Inszenierung der eigenen den Rang abgelaufen hat.

Allerdings ist es nicht so, daß die Inszenierung der Wirklichkeit nur die Weihnachtszeit betrifft: Vor ein paar Tagen wurde in den Nachrichten z.B. über irgendeine Brüsseler Finanzentscheidung berichtet. Darauf der Moderator: „Was sagen die Märkte dazu?“ Stimmt, was sagen eigentlich die Märkte? Man will doch wissen, wie es denen geht, die einen beherrschen. Befragt wurde dann aber nicht etwa ein Markt, sondern einer seiner Vasallen, Börsenspezialist Soundso, der freudig erregt wirkte, wieso, habe ich allerdings nicht verstanden. Vielleicht haben die Märkte ihn auf ein Glas Glühwein eingeladen.

Neulich las ich in einem Interview, es reiche doch völlig aus, wenn Weihnachten alle zwei Jahre stattfände. Warum nicht noch seltener? Spekulatius essen kann man auch ohne den ganzen Rummel.

0 Gedanken zu “Weihnachtsrummel

  1. Natürlich verlange ich gar nicht, alles Elend der ganzen Welt ständig mit sich herumzutragen, man muß sich selbst auch was Gutes tun – aber vielleicht nicht ganz so ausschweifend und mit den richtigen Mitteln.

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  2. Ich hab’s gut, ich entkomme dem Rummel. Große Städte sind hier nicht. Und wir alle sind uns einig: Keine Weihnachtsdeko. Was das an Strom spart!
    Dein Eintrag ist super, vor allem der Hinweis auf den Roman am Anfang, yeah, so ist es. Weihnachten als Droge. Anders geht’s wohl nicht.

    Gib’s zu, das mit dem Lübecker Hütchen hast du noch von Honk und mir damals abgespeichert, oder? Das waren noch Zeiten, an denen er bei mir nackt putzen wollte, nur im Lübecker Hütchen! 🙂 Wo steckt der überhaupt? Meine Blogleute von damals dünnen immer mehr aus…

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  3. Ich geb’s zu, ohne euch wüßte ich gar nicht, daß der Warnkegel Lübecker Hütchen heißt. Daß er allerdings bei Dir nackt putzen wollte, hatte ich vergessen. Hoffentlich ist nicht das der Grund für sein Abtauchen. 😉 Nee, ich glaube, der hatte einfach keine Lust mehr, wie so viele, die eine Zeitlang bloggen.

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  4. *lach* haha, wie gemein! Ja. Ich fand daran besonders pikant, daß er’s meiner Fantasie überließ wo er denn das Lübecker Hütchen tragen würde…
    In Wirklichkeit fände ich die Vorstellung einen Nackputzer in meiner Bude zu haben, eher abturnend, irgendwie sind nackte Männer doch nicht wirklich schön, oder?
    Man müßte aber echt mal fragen, was mit den Lübecker Hütchen geschieht, wenn sie ausgemustert sind. Kann man die gebraucht bekommen? Wir haben übrigens immer welche da, sprich im Auto. Svea hat damit schon zig mal Fahrradslalom geübt.

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  5. Ich ziehe nackte Frauen den nackten Männern auch unbedingt vor, also … äh, ästhetisch, meine ich. Aber putzen müssen sie nicht unbedingt nackt, wer bei mir putzt, darf seine Sachen ruhig anbehalten. Und wer nackt ist, braucht nicht zu putzen.
    Keine Ahnung, aber in dem Laden kannst Du die Hütchen neu kaufen, vielleicht gibt’s die Weihnachtsmütze dazu.

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  6. *lach* hilfe! Ich seh meine Wohnung schon bevölkert von nackten Leuten, weil keiner putzen will. Ich verlos dann ein Lübecker Hütchen, und wer das gewinnt, muß wenigstens abwaschen.

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  7. Gut, wie du sensibel den vorweihnachtlichen Rummel betrachtest. Einige deiner Fotos zeigen aber auch, worum es sonst noch geht, abseits des Konsums: In dieser dunklen Jahreszeit hungern die Menschen nach Licht. Ich tröste mich damit, dass es um ein uraltes Bedürfnis geht. Dass Weihnachten terminlich auf die Zeit der Sonnenwendfeiern gelegt wurde, kam ja nicht von ungefähr. Die Christen haben diesen heidnischen Brauch umgewidmet, wie sie auch auf den heidnischen Kultplätzen Kapellen oder Wegkreuze errichtet haben. Wenn man die tieferen Gründe der Weihnachtszeit und die aufgepflanzten reliösen dazu außer Acht lässt, dann bleibt doch immer noch Licht. Und wir bekommen es quasi kosten- und mühelos von jenen, bei denen wir ja doch nichts kaufen. Ich weiß allerdings nicht, ob dieses Lichtschnorren den Märkten gefällt.

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  8. Genau, danke für die Ergänzung. In den letzten Tagen habe ich schon öfter den Stoßseufzer gehört: Ein Glück, daß die Tage bald wieder länger werden. Daß uns aber nicht zu wohl wird bei all dem Licht, dafür sorgen die Märkte ja ganz gut, da das Licht oft auf Waren gerichtet ist, deren Abbilder sich in unsere Hirne brennen sollen.

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  9. die menschen ertragen doch ansonsten diese ganze WIRKLICHE realität gar nicht mehr, die sie via TV und Radio andauernd an den kopf geworfen bekommen, da ist es doch fast klar, dass du dich zudrönen musst mit allerlei psychofarmaka (bei mir gehört alk da dazu), medien a la handy, weihnachtszirkus usw usf…es dient dem überleben und auch dem licht in dunklen zeiten, das sieht jules schon sehr richtig…
    trotzdem, ganz ganz tolle fotos wieder, du bist ein fantastischer traumtänzer der fotografie, sehr gelungen!

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  10. Ganz vielen Dank! 🙂

    Ja, wie singen die „Toten Hosen“:

    Ein klarer Kopf ist die beste Droge –
    na klar, das kann schon sein.
    Es gibt soviel schlaue Sätze dazu
    und mir fällt auch einer ein:

    Kein Alkohol ist auch keine Lösung!
    Ich hab es immer wieder versucht.
    Kein Alkohol ist auch keine Lösung!
    Es würde gehen, doch es geht nicht gut.

    Ich kenne einige, die völlig drogenfrei ein engagiertes, zufriedenes Leben leben. Aber ab und zu mal ein paar Biere zu kippen ist wahrscheinlich besser, als sich mit Kaufrausch zu betäuben.

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