Fluchtpunkt Berlin (6) – dies & das (1)

Aha. Man kann sie auch zu einem Salat anrichten. Ist das dann ein Ameisensalat?

Jedenfalls gehen sie manchmal komische Verbindungen ein, die Buchstaben. Ein Getränkemarkt, in dem der Durst lacht? Müßte es nicht heißen: „Hier fürchtet sich der Durst!“? Oder gibt es hier nur Cola, von der man noch mehr Durst bekommt, so daß er immer fröhlicher wird angesichts der Dummheit der Trinkenden, und sich auf die Schenkel klopft?

Hier, vor der Humboldt-Universität, versorgt sich der gemeine Student mit Lektüre – kein Wunder, daß das mit den Buchstaben so eine Sache ist.

Im Foyer der Uni ist eine Kunstinstallation zu sehen, ich habe sie fotografiert. Bitteschön, was sagt ihr dazu? Was? Man sieht gar nichts? Doch doch … paßt auf, es handelt sich um folgendes:

1953 ließ die Sozialistische Einheitspartei der DDR (SED) das Zitat von Karl Marx dort anbringen. Nach der Einverleibung der DDR in die BRD war natürlich alles pfui, was die SED je getan hat, deshalb wollte man den Schriftzug wieder abmontieren, unabhängig von seinem Inhalt. Dagegen gab es Proteste, und so streitet man bis heute, als wenn es nichts anderes zu tun gäbe. Um mal ein bißchen Luft herauszulassen aus der aufgeblasenen Diskussion, schrieb die Uni einen künstlerischen Wettbewerb aus, man wollte das Zitat „künstlerisch kontextualisieren“. Das, was man oben sieht, ist ein Beitrag der Künstlerin Ceal Floyer und besteht in der x-fachen Anbringung des Schildchens „Vorsicht Stufe“.

Aaah ja. Gut. Fein fein. So so. Jo, ist doch ganz schön, wie die glänzen. Oder nicht? Wie oft ist man schon mal gestolpert auf einer Treppe … also bitte: Danke dafür. Auf der Homepage der Universität weiß man ganz genau, wie man das Werk zu beurteilen hat und poliert wahrscheinlich schon den Preispokal (es folgt ein Originalzitat):

„Ihre Installation „Vorsicht Stufe!“ im Foyer der Humboldt-Universität versucht erst gar nicht, sich in einer Debatte zu positionieren, in der man mit jeder Antwort in ein Minenfeld tritt. Trotzdem wirkt das Werk nicht wie eine Flucht vor einer Stellungnahme, sondern drückt Esprit und Selbstbewusstsein aus. Es lässt eine ganze Fülle an Deutungen zu. Das ist wichtig an einem Transitort, den Hunderte sehr verschiedene Menschen täglich mehrfach betreten. Noch wichtiger aber ist, dass Floyers Arbeit nicht dominant einfordert, interpretiert zu werden. Durch ihre leise Bildsprache ist die Installation zugleich ein Gegenentwurf zu der intendierten Autorität des Marxzitats. Floyers Arbeit ist damit auch ein Protest gegen propagandistische Vereinfachung.
Die Installation überzeugt nicht nur auf theoretischer Ebene, sondern ist auch physisch unmittelbar präsent. Obwohl klar als künstlerische Intervention erkennbar, fügt sie sich optimal in den architektonischen Kontext ein. Denn den Kontext, erklärte Floyer einst einem Kunstmagazin, betrachtet sie als eigenständiges Medium in seinem eigenen Recht.“

Wir wollen jetzt auch selbst mal was schreiben, vielleicht eine Postkarte an die Lieben zu Hause? Oder könnte man das mißinterpretieren? Ein Gegenentwurf zu einem Gegenentwurf zu einer intendierten Autorität? Eine mangelnde Fülle an Deutungsmöglichkeiten mit einer dominanten Interpretationsforderung, eine Affirmation, ja, Antizipation vereinfachter Propaganda? Oder öffnen wir ein Minenfeld, und wenn man da hineintritt, hat man das Zeug am Schuh kleben, bzw. eine Debatte an der Backe, die gar nicht intendiert war? (ich denke besonders an Onkel Günther, der die mittlere Karte als Kritik verstehen könnte)

Die Wissenschaft – ein weites Feld. Wenden wir uns den Erscheinungen des Alltags zu: Kann mir mal jemand sagen, wieso bereits seit Jahren an der U-Bahnhaltestelle Unter den Linden/Ecke Friedrichstr. herumgebaut wird? Oder bleibt das jetzt so, eine ewige Baustelle? Kann man sich ja drauf einrichten, und die Baufirma freut’s. Der Reiter rechts ist übrigens „der alte Fritz“, den ihr jetzt alle aus den letzten beiden Einträgen kennt. Wahrscheinlich ist er auf dem Weg zu seinem Kartoffelfeld, das er oben vor der Museumsinsel angelegt hat. Kennt ihr die Geschichte? Friedrich II. erkannte den Wert der Kartoffel für die Ernährung des Volkes, aber die tumben Bauern wollten nicht so recht mitziehen und weiter nur Getreide anbauen. Also ließ Friedrich ein großes Kartoffelfeld anlegen und es Tag und Nacht bewachen, und tatsächlich, die Bauern fielen auf die List herein: Wenn etwas so gut bewacht wird, muß es wertvoll sein, also stiegen sie im Dunkeln über die Zäune und stahlen das kostbare Gut. Und so wurde die Kartoffel in Deutschland zum Nahrungsmittel Nr. 1.

Der Mensch lebt allerdings nicht von Kartoffeln allein, das Würstchen empfiehlt sich.

So langsam kriegen wir auch Hunger. Vorbei an der Staatsoper, die unsere Aufmerksamkeit mit freundlicher Werbung weckt („hey, super, komm, da müssen wir unbedingt hin, eine Frau in rotem Kleid schreit uns wütend an, wie geil ist das denn“) …

… und auch vorbei am Engel im Historischen Museum (dahinten linst uns Friedrich schon wieder an, er ist allgegenwärtig, wenn man ihn erstmal bemerkt hat) …

… landen wir im Café eben dieses Hauses, wo sich junge Leute mit nicht so viel Geld gegenseitig füttern. Brav.

Ich bin gerne hier.

Fortsetzung folgt.

0 Gedanken zu “Fluchtpunkt Berlin (6) – dies & das (1)

  1. Hi Videbitis,

    danke mal wieder dafür… 😀
    Viel interessantes Wort und Buchstaben(salat), aber auch wieder mal Fotos, die mega gut geworden sind.
    Ich mag die verschiedenen Perspektiven sehr.

    Zudem… wieder was gelernt… :yes:

    Die Schilder sind ja genial… :))

    LG mosi

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  2. Super witzige Bilder und Texte, aber das küssende Paar ist zwar schön, aber widerspricht ganz eindeutig dem Recht auf Privatssphäre in Bildern, finde ich. Ich weiß, du siehst das nur im ästhetisch-künstlerisch-menschlichwarmen Zusammenhang, aber wenn ich einer der beiden wäre, würde mich eine Veröffentlichung wütend machen.

    Die „Vorsicht Stufe“-Nummer ist ja wohl ein Witz, oder? Manchmal möchte man solchen Leuten einfach nur noch in den Mors treten, so dämlich ist das!

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  3. die humbolduni habe ich vor 10 jahren auch einmal von innen gesehen, zumindest das audimax. damals gründete sich dort die wasg.

    das zitat von marx finde ich bemerkswert. in einem philosophie seminar habe ich gelernt, dass marx ein philosoph war und kein politiker.
    aber wie verändert man die welt? diese frage treibt auch mich um.
    zurzeit brüte ich an einem text, der veröffentlicht gehört.
    aber nicht nur im blog sondern als flyer verteilt.

    die geschichte vom alten fritz und der kartoffel kenne ich noch aus der schulzeit. daher hatte ich auch den ausspruch vom fritz mit der nase und den dingen.

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  4. Aber – würdest Du die auf der Straße wiedererkennen? Ich habe extra ein Bild genommen, wo man die Gesichter nicht oder kaum sieht. Die Gesichtserkennungssoftware von Picasa hat mich gefragt, ob ich dem Würstchen einen Namen zuteilen will, bei dem Kußbild hat Picasa kein Gesicht erkannt. Die beiden Personen selbst wüßten natürlich, daß sie das sind, würden sie das Bild sehen. Aber sie haben eigentlich keinen Grund, sich zu beschweren: Wer in der Öffentlichkeit knutscht, braucht sich nicht zu wundern, wenn er gesehen wird. Und da man ihre Gesichter nicht erkennt, die Szene eher rührend ist als alles andere, habe ich eigentlich kein schlechtes Gewissen. Und die Komposition zusammen mit dem Kleiderständer, dem rotem Hut und der Tapete ist – sage ich mal ganz unbescheiden – ein kleines (Zufalls-)Kunstwerk.

    Ich habe erst gedacht, der Text auf der Humboldt-Seite kann nur Satire sein, aber nein … ein Kunstwerk, das nicht „einfordert, interpretiert zu werden.“ Das ist gut, das muß ich mir merken. Wenn sie auf jede Stufe z.B. ein Spiegelei genagelt hätte, würde das wahrscheinlich mehr Interpretation provozieren, als der Künstlerin lieb ist. Noch weniger Interpretation und Debattenposition würde sie freilich erreichen, wenn sie die Schilder ganz wegläßt: Ein Kunstwerk ohne -werk, übrig bleibt pure Kunst ohne jede Interpretationsmöglichkeit – das nenne ich Avantgarde!

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  5. Daß ausgerechnet die SED den Spruch da angebracht hat, ist doch ein Witz, denn wer in der DDR was verändern wollte, landete schneller im Knast, als er den Plan aussprechen konnte. Insofern wären die BRDemokraten gut beraten, das Zitat hängen zu lassen, aber Marx, SED, DDR – Reizwörter, die bei den verbeamteten Entscheidungsträgern den Verstand aussetzen lassen. Die Dummheit stirbt zuletzt.

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  6. Wie kamst Du auf Salat? Aus Buchstaben macht man doch üblicherweise Suppe. Außerdem kann ich Elias Canetti Aphorismus nicht recht folgen. Ist mir zu schwer. 😀

    Aber es ist wieder eine sehr gelungene Dokumentation Deines Bummels durch das universitäre Umfeld.

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  7. Tolle Fotoreportage mal wieder und sehr inspirierend.
    Zu der „Kunstinstallation“ beim Marx-Zitat in der Humboldt-Universität: Man könnte denken, düstere dystopische Zeiten sind angebrochen, in denen die Kunst zur alles banalisierenden Fußnote philosophischer Gedanken verkommen ist und mystelnder Quatsch wie der von Canetti für geistvoll gilt.

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  8. Suppe auch, das stimmt. Wer möchte Ameisen in seiner Suppe? Das schmeckt doch nicht.

    „Buchstaben sind wie Autos auf dem Highway: Mal fließt es, mal krachen sie ineinander.“
    „Buchstaben sind wie die Sterne am Firmament, mal leuchten sie hell, mal dunkeln sie im Ungewissen.“ Usw.
    Merke: Nicht jeder Aphorismus ist geglückt, auch nicht, wenn der Verfasser Canetti heißt. 😉

    Danke!

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  9. Das ist alles richtig, was du schreibst, aber es ist einfach ein Bauchgefühl, so etwas wie „das tut man nicht“. Aber eben wie gesagt nur meine Meinung.

    Ich weiß es auch nicht. Mich als Künstlerin macht es wütend, daß für so ein Mist Geld ausgegeben wird, während so viele großartige Künstler ungewürdigt bleiben.

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