5. Jahreszeit

Rechnet man alle Tage, die in Deutschland als 5. Jahreszeit benannt werden, zusammen und addiert sie zu den Tagen der gewöhnlichen vier Jahreszeiten, kommt man auf eine Anzahl von weit über 500 Tagen. Als lohnabhängiger Arbeitnehmer begrüße ich es daher sehr, daß 5. Jahreszeiten parallel und nicht zusätzlich zu den anderen vier stattfinden, auch wenn das zeigt, daß die Bezeichnung völliger Unsinn ist.

In der rheinischen 5. Jahreszeit, die über drei Monate dauert und fachmännisch auch „Session“ genannt wird, neigen in ihrem Verlauf immer mehr Menschen dazu, sich zu kostümieren und in der Kostümierung auf die Straße zu gehen. Das ruft nicht etwa die Polizei oder Psychologen auf den Plan, sondern eskaliert völlig unbehelligt in einem mehrtägigen Gesangs- und Saufgelage – bis es dann von einem Tag auf den anderen quasi in sich zusammenbricht.

Da! Den habe ich schon im Dezember erwischt. Gut, es gibt Kostüme, die werden nach ungefähr der Hälfte der Session nicht mehr so oft getragen.

Jetzt sieht man häufiger solche Gruppen – die stehen da vor einer Kneipe, rauchen und trinken Kölsch und reiben ihre Hintern aneinander (habe ich gehört, aber noch nie gesehen, man nennt das „Stippeföttche“). Klingt schwul, ist es aber angeblich nicht. Also – ich weiß es nicht, macht das ruhig mit euren Ärschen, lustvoll, ich fänd’s vollkommen in Ordnung.

Braucht noch jemand eine originelle Verkleidung? Falls alles ausverkauft ist – der Sexshop bei mir um die Ecke hat noch Masken im Angebot. Gibt’s die auch als Esel? Ich kenne einige, die könnten die ganzjährig tragen.

Als ich neulich im Zug saß, stieg diese Horde zu – „Ach du Schei…“, war mein erster Gedanke, aber sie verhielten sich manierlich, sparten sich vermutlich ihre Energie auf für die Veranstaltung, zu der sie gerade unterwegs waren. Vielleicht fuhren sie zur „Lachenden Köln-Arena“: 10.000 Feiernde versammeln sich da für einen Zeitraum von über sechs Stunden in einer riesigen Halle vor einer Bühne und lassen sich von Karnevalsmusik und -rednern unterhalten. Die Veranstaltung findet in dieser Session 15 (fünfzehn!) mal statt und ist schon im Vorfeld so gut wie ausverkauft. Und natürlich gibt es noch viele andere Veranstaltungen, die 480 Karnevalsgesellschaften, die es allein in Köln gibt, arbeiten das ganze Jahr darauf hin, daß während der Session irgendwas passiert. Das Kölner Dreigestirn hat zwischen 400 und 500 Termine, wo sie mit Spannung erwartet werden. Das Dreigestirn kennt ihr, oder nicht?

Dass Dreigestirn besteht aus drei Männern, die irgendwelche wichtigen Ämter in einer Karnevalsgesellschaft bekleiden und Prinz Karneval, den Bauern und die Jungfrau darstellen. Jedes Jahr sind das neue Leute, es sei denn, einer von ihnen ist kurzfristig verhindert, weil er beispielsweise eine Strafe im Gefängnis absitzen muß, dann springt jemand aus dem Vorjahr ein, aber das kommt selten vor. Die drei sind die wichtigsten Personen jeder Session, wichtiger sogar als alles andere auf der Welt, weshalb die Proklamation des Dreigestirns auch alle anderen Nachrichten auf der Titelseite des Kölner Stadtanzeigers verdrängt. Am 11.11. übernehmen sie symbolisch in Form eines großen Schlüssels die Macht über die Stadt aus den Händen der Oberbürgermeisterin.

Zur Proklamation dann im Januar während einer großen Sitzung treten sie zum ersten Mal in vollem Ornat auf, also in dem Kostüm, das sie bis Aschermittwoch tragen müssen, und in dem sie sogar schlafen … gut, das weiß ich jetzt nicht so genau. Zu den bis zu 500 Terminen müssen sie dann immer eine Rede halten, singen und tanzen wäre auch nicht schlecht. Natürlich sagen sie immer dasselbe, beispielsweise: „Hück is de schönste Dach in minge Levve …“ (Heut ist der schönste Tag in meinem Leben) – was unlogisch ist, wenn man das an mehr als einem Tag sagt, aber das ist egal: Die Leute, die zu einer Karnevalsveranstaltung gehen, wollen sich unbedingt amüsieren, mit aller Gewalt. Es ist egal, wie fad und dumm die Witze sind, die die Redner von sich geben, es reicht völlig aus, daß man erkennt, daß sie witzig sein wollen – wenn es irgendwie geht, lacht man. Alkohol hilft.

Das Dreigestirn hatte in diesem Jahr sogar eine Papstaudienz. So eine Audienz, da steht man inmitten von 7.000 Leuten, und der Papst geruht zu erscheinen. Hinterher gab es aber ein Treffen in einem chambre separee – das Dreigestirn, der Papst, Erzbischof Kardinal Wölki und ein Bestattungsunternehmer unter sich. Der Bestattungsunternehmer war nicht etwa dabei, um sich mit einem Kollegen aus dem Jenseits-Business auszutauschen, nein, der Herr Kuckelkorn ist gleichzeitig Präsident des „Festkommitees Kölner Karneval“ (FK, nicht! FKK), das ist das allerhöchste Amt des Karnevals, eine dem Papstamt ähnliche Position. Päpste treffen sich nicht so oft.

Die Begegnung dauerte nur sechs Minuten, nach der Franziskus um ein paar Geschenke reicher war: Ein Schal, auf dem nicht nur das Vaterunser in kölschem Dialekt gestickt ist („Unse Vatter em Himmel, dinge Name halde meer hellich …“), sondern dessen bunte Rückseite an einen traditionellen kölschen Lappenclown erinnert, eine Quietscheente im Husarenkostüm und eine Narrenkappe. Wenn der Papst also nach Lust und Laune in der Badewanne mit der Ente gespielt hat, kann er sich den Schal rückseitig umbinden, sich die Kappe aufsetzen und vor dem Spiegel versuchen, sich einen Witz zu erzählen: „Kommt eine Frau zum Arzt … nee, blöd. Kommt ein Arzt zum Papst … nee, gar nicht lustig. Kommt ein Papst zur Päpstin … muahahaaa!“ Der Papst ist von einfältigem Gemüt – und damit ist er den Kölner Karnevalisten näher, als er weiß.

Und deswegen war auch der Erzbischof dabei: Wenn der Papst die Jungfrau sieht, ruft der vielleicht sofort den Arzt. Ein Mann mit einer Zopfperücke – da muß man helfen, Homosexualität ist eine Krankheit, die man heilen kann, davon ist der Papst fest überzeugt. Wölki kann dann schnell eingreifen und erklären, daß der Karneval ursprünglich ein männerbündische Angelegenheit ist, in der Frauen nichts zu suchen haben, es sei denn, sie zeigen als Funkenmariechen ihre schlanken Beine unter kurzem Röckchen, sichtbar bis hoch in den Schritt.

Sitzungskarneval. Viele sagen, der eigentliche Karneval fängt erst Weiberfastnacht an, Straßenkarneval, so anarchisch, so ursprünglich, so gut.

Alaaf!

(Samstag fahre ich nach Berlin. Ich hoffe es regnet viel, bis ich wieder da bin.)

 

20 Gedanken zu “5. Jahreszeit

  1. Aha, ich hab‘ mich schon gewundert über deine detaillierten Ausführungen, aber der letzt Satz bringt es auf den Punkt, „du bist dann mal weg“. Alle Jahre wieder die Flucht nach Berlin.
    Na denn, gute Reise.

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  2. Ach, ich verzeihe Dir! *Absolution erteile* Aber Deine Ausführungen treffen es doch irgendwie auf den Punkt! Feiern die in Berlin denn gar keinen Karneval? 🙂
    Mit dem Regen wirst Du Dich noch etwas gedulden müssen. Der prasselt erst am Rosenmontag (wenn überhaupt) pünktlich auf den Zoch… 😀

    Liebe Grüße, Werner

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    1. Da bin ich froh, lieber Werner, es gibt ja auch viele Karnevalisten, die verstehen keinen Spaß, wenn es um ihre Feier geht.

      Karneval gibt es auch in Berlin, hauptsächlich in Kindergärten und Kitas – also da, wo er hingehört.;-) Vor ein paar Jahren habe ich durch Zufall tatsächlich einen Rosenmontagszug gesehen, der – vermutlich, um den Verkehr nicht zu sehr zu stören – am Sonntag durchs Regierungsviertel zog. Viele Zuschauer waren allerdings nicht da. Aus Kostengründen findet er nun nicht mehr statt. Aber es gibt eine Mardi-Gras-Parade „im New Orleans Carnival Style“ durch Kreuzberg, habe ich gerade gelesen – da muß ich aufpassen, daß ich da nicht aus Versehen hineingerate.

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  3. Dein Almanach zum Kölner Karneval gefällt mir gut. Und natürlich hast du ihn wieder mit prima Fotos bebildert, Die gutgelaunte Föttchenwackelei der Funken kann man ja in fast jeder Kölschen Karnvalssitzung zu sehen, wobei ich mich wirklich frage, woher die Tradition stammt. In Hannover-Linden merkt man so gut wie nichts vom Karneval. Einzig die Bäcker streuen Konfetti auf die Berliner Ballen.

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    1. Prima, das freut mich. In Berlin wird das auch so sein, vermutlich werden wieder ein paar Buden und eine kleine Bühne neben der Gedächtniskirche stehen, für die sich kaum jemand interessiert. Hier ist auch am Freitag der Teufel los, Du kennst das ja wahrscheinlich von früher.

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  4. Herrlich. Für eine Münchnerin ein schöner Einblick. Ich bin ja froh, dass der Fasching hier erst gestern anfing und Dienstag rum ist. Karnevalen. Wir nicht. Das würde mit der Wiesn zu viel werden. 😉

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    1. Als ich nach der 5. Jahreszeit recherchiert habe, habe ich bei Wikipedia folgendes gefunden: „In Bayern wird traditionell die Starkbierzeit als fünfte Jahreszeit bezeichnet. Sie dauert über die gesamte Fastenzeit an …“. Gar nicht ungeschickt: Erst ein bißchen Fasching feiern, und dann mit extra starkem Bier bis Ostern durchsaufen. Aber das merkt man wahrscheinlich nicht so auf der Straße, oder? Bei mir in der Nähe ist schon wieder abgesperrt, die Jecken lassen im Studentenviertel keinen Verkehr mehr durch. Selbst hier, im Randbereich, stehen große Trauben Verkleideter vor den Kneipen, aus denen laute Karnevalsmusik erschallt.

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      1. Nein, nein. Das Starkbier ist ja nun eigentlich kein Alkohol, sondern ein Grundnahrungsmittel. Sozusagen das Minimum was ein Körper braucht wenn er ab Aschermittwoch streng fastet. Also ich glaube, dass man sich so die fünfte Jahreszeit in Bayern schön reden kann. Das Starkbier ist tatsächlich nicht so präsent auf der Straße. Eigentlich. Bei mir schon. Ich wohne nämlich direkt am Nockerberg. Dem Dreh und Angelpunkt des Starkbiers in München. Mir schmeckt es aber nicht.

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        1. Stimmt ja, Bier ist flüssiges Brot, und Biber sind Fische – fröhliche Fastenzeit! Da könnte ich fast religiös werden;-)
          Nockerberg … habe ich schon mal gehört, den Begriff. Vielleicht blogst Du mal was darüber.:-)

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  5. der papst ist blöd, der karneval ist blöder und heute reist du nach berlin, das ist am schlausten. 😉
    gestern in einem boulevardmagazin im tv ein bericht aus köln vom karneval.
    junge menschen die fast bis zur bewusstlosigkeit den alk in sich reinschütten.
    die helfer vom drk, johanniter etc. sind dann gefragt.
    nur zu gut kann ich deine flucht nach berlin verstehen.
    bring schöne fotos für uns mit.

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    1. Und schon bin ich wieder da – Kinder, wie die Zeit vergeht.;-) Als ich vom Bahnhof nach Hause lief, klebten noch vereinzelt ein paar Bonbons in den Rinnsteinen, aber nun ist wieder alles so, als wenn nix gewesen wäre.

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  6. 🙂 Falls du in Berlin über einen Karnevalisten stolpern solltest flüchte gern nach Hamburg…garantiert Narrenfrei…jedenfalls Karnevalsnarren, die anderen gibts hier auch…Regen scheint bis Dienstag garantiert zu sein, soviel das das Pappmachezeug auf den Wagen Schaden nehmen könnte…ansonsten : toller Bericht ! LG Jürgen

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    1. Danke! In früheren Jahren standen mal ein paar Buden auf dem Breitscheidplatz, wo man rote Nasen, blaue Perücken und Bratwurst kaufen konnte, aber das hat sich wohl nicht gelohnt, in diesem Jahr war gar nichts – zwei Männer, die als Mickey Mouse verkleidet waren, aber nicht wegen Karneval, sondern wegen einer Werbeaktion. Um die anderen Narren braucht man sich im Alltag nicht zu kümmern, die laufen ja glücklicherweise nicht gröhlend auf der Straße herum, sondern sitzen in Hinterzimmern im Rathaus und lachen sich klammheimlich ins Fäustchen.;-)

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