Berliner Eindrücke (1)

Die Berliner Verkehrbetriebe (BVG) duzen und lieben mich immer noch, jetzt schon seit einem Jahr. Es fällt mir schwer, diese Gefühle zu erwidern: Daß in Berlin keine Karnevalisten sind, ist genau der Grund, weshalb wir überhaupt hier sind, aber das ist kein Verdienst oder Gefallen der BVG. Als Liebesbeweis taugt das nicht viel. Wie wäre es mit einer Einladung zum Candle-light-Dinner? Freifahrtscheine? Was ist, wenn ich mal gerade kein Kleingeld habe, schwarz fahre und dabei erwischt werde? Schwamm drüber, nicht so schlimm, kann ja jedem mal passieren … in einer Liebesbeziehung sollte das möglich sein. Aber nichts da: Wo das Geld anfängt, da hört für die BVG die Liebe auf, her mit den 60 Ocken! Ich befürchte, die BVG sind (keine Heirats-, aber) Beziehungsschwindler.

Keine Karnevalisten also. Getrunken wird hier aber anscheinend trotzdem, und zwar nicht wenig, in den Redaktionsräumen der B.Z.

Dauerregen an den ersten beiden Tagen – gut, macht nichts, wir lassen es ruhig angehen und stöbern ein bißchen im Kulturkaufhaus Dussmann, wo man schon wieder umgebaut hat (die CDs stehen nun dort, wo vorher die Bücher standen, und umgekehrt, keine Ahnung, warum, es erscheint so sinnlos) …

… und ergattern einen Tisch im hauseigenen Café mit dem hängenden Garten.

Wenn es nicht so ungemütlich wäre, würden wir betimmt aussteigen, um noch einen Blick in die traditionsreiche Kreuzberger Buchhandlung „Kisch & Co.“ zu werfen, solange es sie noch gibt: Der Pachtvertrag ist abgelaufen, und die neuen Mieten sind so hoch, daß die Betreiber sie nicht mehr aufbringen können.

Das „Schweinesystem Kapitalismus“ und mit ihm die üblen Auswirkungen der Gentrifizierung sind hier in vollem Lauf (das halten weder Ochs noch Esel auf):

Das türkisfarbene Gebäude am anderen, sehr ruhigen Ende der Reichenberger Str. ist neu. Da finden nicht etwa einige der vielen Wohnungssuchenden ein neues Zuhause für angemessene Mieten, nein, das komplette Haus besteht aus Ferienwohnungen, nur im Erdgeschoß ist ein Restaurant mit gehobenen Preisen. Dem Besitzer des angrenzenden Gebäudes rotieren in Erwartung einer zahlungskräftigen Klientel die Eurozeichen in den Augen: Er hat die Miete für die französische Bäckerei „Filou“, die es hier schon seit 15 Jahren gibt, so stark erhöht, daß es einem Rauswurf gleichkommt – so eine dusselige Bäckerei, das bringt doch keine Kohle, da muß eine Bar rein oder sowas!  Die Aufregung im Kiez ist groß, zumal das nur zwei Beispiele sind für einen Trend – die Leute haben ganz einfach Angst, bezahlbaren Wohnraum zu verlieren. An der Demonstration, die an dem Samstag veranstaltet wurde, haben unerwartet 2.500 Leute teilgenommen.

Fortsetzung folgt.

13 Gedanken zu “Berliner Eindrücke (1)

  1. Dabei liebt die BVG doch angeblich jeden so wie er ist:https://www.youtube.com/watch?v=RZ30PTSM6sw
    (PS: der sympathische Fake-BVGler ist leider nicht mehr unter uns)

    Oh oh oh, die liebe Buchhandlung Kisch! Immer erste Adresse für Schnäppchen und Stöbereien. Auch viele Fotobücher und dahinter die Galerie, in der es zuweilen sehr Kurioses zu sehen gab. Stets inspirierend und ein ruhiger, angenehmer Ort. Ich muß da wohl schnell nochmal hin. Übrigens: nur wenige Häuser weiter: das Bateau Ivre, in dem es den von dir damals so bestaunten sehr günstigen Salatteller gibt. Und die Grüne Papeterie am Heinrichplatz, die hängt schon seit Jahren am seidenen Faden wegen steigender Mieten. Gibt es DIE denn noch? :(((

    Like

    1. Uff – mit 34 schon.

      Ja, mein Freund erzählte, daß die alten Besitzer, von denen viele die Mieten – wenn überhaupt – nur moderat angehoben haben, so langsam wegsterben, d.h., Erbengemeinschaften verkaufen, und die neuen Besitzer wollen natürlich so viel rausholen wie möglich. Ein Stadtteil verschwindet.

      Like

        1. Der Grund für den lockeren Schneidezahn ist nicht Parodontitis, sondern nächtliches Zähneknirschen, wie ich schon vermutet hatte. Und wenn ich Glück habe, ist das auch die Ursache für den Tinnitus, der mich immer noch quält. Ende April, so lange dauert die Herstellung, bekomme ich eine Aufbißschine, die ich mir für die Nacht in den Mund schieben muß. Ich hoffe, sie hilft.

          Like

  2. leider findet die gentrifizierung in vielen großstädten statt.
    dort, wo es lebenswert und günstig wohnraum gibt, weil die häuser alt sind, wird heftigst verkauft, saniert und zu hohen mieter weitervermietet.
    ein scheiß system.
    es lebe eben der profit.
    die reichenbergerstraße ich mir auch bekannt, lange her mein besuch dort.
    danke für dein einblick in den ausblick. 😉

    Like

  3. was du da beschreibst mit der gentrifizierung – das geht wie ein rasenmäher durch berlin. alle alten kieze sind inzwischen davon betroffen. im gegensatz zu früheren zeiten, wo die wandernde szene immer noch ecken zum ausweichen fand, sind solche heute kaum noch zu finden – außer, du gehst nach marzahn – subkultur in der hochhausplatte…

    Like

    1. Stimmt, ich erinnere mich, es ist noch nicht lange her, da zogen alle nach Friedrichshain, und von da aus nach Neukölln (oder umgekehrt). In Köln gibt es auch nichts mehr zum Wandern für die Szene, es ist inzwischen überall voll, nur in den sogenannten sozial problematischen Vierteln wie Chorweiler (vergleichbar mit Marzahn) gibt es noch freie Wohnungen. Da will nun aber wirklich keiner hin.

      Like

Hinterlasse einen Kommentar