Jülicher Str.

„Public viewing“ scheint in meinem Viertel eine entspannte Sache zu sein: Es sind noch Tische frei, wenn ich mich für Fußball interessieren würde, hätte ich mich dazugesetzt. Stattdessen nutze ich die Gelegenheit und gehe im wunderbar leeren Supermarkt einkaufen.

Offenbar hat das Spiel noch nicht angefangen, einzelne Spieler werden interviewt, und ich höre im Vorbeigehen, wie ein Herr S. dem Reporter ins Mikrophon sagt, Fußballer hätten ja auch Vorbildfunktion. Ach! Ich hoffe, er meint das nicht ernst. Vorbild wofür? Seine Bildung täglich aus der dümmsten Boulevardzeitung zu beziehen, die es gibt? Eine bestimmte Sorte überfetteter Kartoffelchips zu essen und sich mit einer bestimmten Sorte Bier die Birne zuzudröhnen? Mit Edelkarren durch die Gegend zu heizen? Oder daß man ein Schweinegeld damit verdient, indem man für all diese Produkte wirbt? Oder soll die Jugend sich daran ein Beispiel nehmen, daß man völlig ironiefrei mit 21 Kollegen einem Ball hinterherrennt, um ihn in ein bestimmtes Areal zu plazieren, und darüber zum Millionär wird? Nein, lieber Herr S., spielen Sie mal schön Fußball, das mit den Vorbildern überlassen Sie besser anderen. Und wenn Sie das nächste Mal auf eine dumme Reporterfrage antworten sollen, sagen Sie einfach, wie es Ihrem Intellekt entspricht: „Keine Ahnung.“

0 Gedanken zu “Jülicher Str.

  1. klasse, so sehe ich das auch.

    die zeiten der fußballvorbilder sind doch schon lange vorbei.
    ich erinnere da an die mannschaft von 1954 in bern.
    habe letztens eine tolle dokumentation darüber gesehen.

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  2. Mein Vater sagte irgendwann mal zu mir, als ich schwor, niemals einen Freund zu haben, der auf Fußball steht, so etwas gäbe es nicht. Witzigerweise hab ich in meinem Leben NUR Männer kennen gelernt, die nicht auf Fußball stehen (bis auf einen).
    Public viewing. Ah ja, die Leichenschau kann beginnen. (Wie Flasche totleer…)
    Mich irritieren gerade die Fahnen und diese eingepackten Seitenspiegel an Autos. Ich denke immer, es wäre irgendwie Staatsbesuch. Heute sah ich ein Öppken im Rolli, dessen Fahne flatterte voran. (Vermutlich auch aus vollem Halse.)

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  3. Als neulich das Spiel vorbei war, rauschte ein Krankenwagen nach dem anderen durch meine Straße – was machen die Leute bloß? Glauben, sie wären ein Fahrzeug in einem Autocorso und werfen sich glückstrunken vors nächste Auto? Oder verheddern sie sich trunken in den riesigen Deutschlandfahnen und fallen auf die Nase? Ein Rolli als Standardausrüstung wäre vielleicht gar nicht schlecht. 😉

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  4. Hmmh…und wie ist das mit der „Vorbild-Funktion“ bei Kölner Spielern die Reklame für Solarstrom machen?

    Davon abgesehen: Man kann grundsätzlich fragen ob ein „Vorbild“ in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt noch Raum haben soll. Man kann Sportarten in denen es Sieger und Verlierer gibt (fast alle also) in Frage stellen. Ist Siegen wollen (müssen) eine Tugend oder unter dem Aspekt des miteinander auskommem wollen (müssen)eher ei „asoziales“ Verhalten?

    Ich habe gestern Abend jedenfalls nicht „Holland – Deutschland“ geschaut sondern das kommunale Kino in meinem Stadtteil geöffnet. 5 Zuschauer statt der sonst üblichen 20-30, ein erboster Hausmeister (Spielort ist die Aula einer Gesamtschule) der nicht erfreut war am Fussballabend Dienst zu haben und
    ein Film in denen es um Verlierer ging die verzweifelt versuchen Sieger zu sein:

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  5. Mit einem erworbenem Ruf für eine Sache Werbung machen, die mit dem Ruf nichts zu tun hat, und dann Geld dafür kassieren, ist ethisch immer verwerflich, selbst wenn die beworbene Sache eigentlich gut ist. Die Gesellschaft einzuteilen in Sieger und Besiegte ist natürlich ganz im Sinne einer kapitalistischen Wirtschaftsform, aber auch gerade in einer ablehnenden Haltung dagegen kann man ja Vorbild sein. Vorbilder, das sind im besten Fall Personifikationen von ethisch richtigen Handlungsweisen, und gerade für Kinder und Jugendliche sehr wichtig: Das Gebot „Einem in Not geratenen Menschen darf man Hilfe nicht verweigern“ sagt sich schnell, ist aber sehr abstrakt, und wenn sich keiner daran hält, ist das auch ein Vorbild, aber ein negatives.
    Materieller Reichtum, Macht und Ruhm sind für viele auch vorbildhaft, und ihre Vertreter Idole dessen, was man selbst gern sein und haben will. Dem gilt es, andere Vorbilder entgegenzusetzen, nur reden hilft wenig.
    Vorbildhaft ist z.B. auch Dein Engagement für das kommunale Kino. 😉 Der Film ist harter Stoff, oder? Ich habe mal Ausschnitte davon gesehen.

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  6. Du hast recht. Solch ein Film zeigt zwangsläufig physische Gewalt. Die wird aber in diesem Fall nicht „reißerisch“ inszeniert.
    Was mir klar war seit ich mich mit dem Thema auseinandersetze: Rechtsradikalismus hat immer mit Perspektivlosigkeit zu tun. Wer offen rechtsradikal agiert will das ändern und instrumentalisiert eine Weltanschauung die an Wirklichkeitsferne kaum zu überbieten ist.
    „Ãœberzeugungstäter“ sind eher selten. Selbst Joseph Goebels hat ja – wie man seit Veröffentlichung der Tagebücher weiß – nicht an die Ideologie geglaubt die er „überzeugend“ zu vertreten wusste. Rechtsradikale Ideologie hat immer eine heuchlerische Komponente.
    Deshalb macht es auch keinen Sinn, zu dämonisieren oder zu diskutieren. Da darf kein Raum gegeben werden und kein Verständnis sein. Es muss allerdings auch geholfen werden – durch einen Staat der Sozialpolitik als seine Kernkompetenz sieht und nicht als etwas das weggespart gehört.

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