"Deutzer Zentralwerk der schönen Künste"

Vor einer Woche war die 11. lange Theaternacht, über 200 Veranstaltungen an über 40 Orten konnte man besuchen. Wenn man zu 200 Veranstaltungen geht, kostet der Eintritt jeweils nur 10 Cent, wir haben allerdings nur zwei geschafft. Das Schöne ist, daß zum Teil ungewöhnliche Orte bespielt werden, in die man sonst ohne Weiteres nicht hineinkommen würde.

Im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma Klöckner-Humboldt-Deutz, das die beiden Künstler „raum13“ übergangsweise nutzen dürfen, trugen junge SchauspielerInnen Textauszüge aus Marcel Prousts Roman „Eine Liebe von Swann“ vor.

Das Gebäude ist riesig, die Aufführung fand in verschiedenen Räumen statt, das Publikum (ca. 8 Zuschauer) dackelte hinterher. Die Darbietung war … najaa, andere junge Leute schmeißen im Studentenviertel betrunken leere Flaschen auf die Straße, da ist es auf jeden Fall besser, sich im Theaterspielen zu versuchen. Alle Texte wurden abgelesen. Es war viel Text, aber sollte man nicht erwarten können, daß Schauspieler ihre Texte auswendig aufsagen, wenn nicht sogar mit mimischem und gestischem Spiel begleiten?

Außerdem möchte ich mal eins mit Nachdruck klarstellen: Wenn ich ins Theater gehe, bin ich nur und ausschließlich Konsument. Ich möchte NICHT in die Aufführung integriert oder sonstwie angesprochen werden, jedenfalls nicht ohne meine vorherige Einwilligung und ohne entsprechende Entlohnung. Revolutionär das Publikum aus seiner passiven Rolle zu befreien oder zu zwingen mag vor 50 Jahren provokativ gewesen sein, mich kann man damit nur sehr verärgern. Hier wurden die Zuschauer an den selben Tisch gebeten, an dem die Schauspieler ihre Texte ablasen und dabei Sekt tranken und rauchten. Ich rechnete schon damit, selbst was vorlesen zu müssen – spätestens dann hätte ich mich darüber beschwert, wieso die Gäste nichts zu trinken bekommen.

Das ehemalige Gelände von Klöckner-Humboldt-Deutz ist übrigens riesig, hier ist die Wiege der weltweiten massenhaften Umweltverschmutzung Automobilisierung, denn hier wurde der Otto-Motor erfunden, der noch heute alle Autos in Bewegung setzt.

Im Jahr 2006 ist die heutige Deutz AG in einen Vorort gezogen, und seitdem stehen die großen Maschinen-, Lager- und Verwaltungshallen und -gebäude leer, oder werden zum Teil übergangsweise fremdgenutzt, das meiste rottet aber vor sich hin. Kölns größtes zusammenhängendes Brachgebiet von historisch außerordentlicher Bedeutung und mit schützenswerter Industriearchitektur, aber die öffentliche Hand hat kein Geld, was Interessantes daraus zu machen, und ich befürchte, irgendwann ist alles so verrottet, daß das ganze Gelände platt gemacht wird, um Platz zu schaffen für geistlose Zweckarchitektur.

0 Gedanken zu “"Deutzer Zentralwerk der schönen Künste"

  1. Mir gefällt die Industriebrache besser als die aufgezwirbelten Ableser, ehrlich gesagt.
    Ich sehe es genauso wie du. Dieses irgendwo-eingebunden-werden ist eine Grenzüberschreitung, die ich nicht mitmachen würde.
    „Komm doch mal nach vorne!“

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  2. Bei Kabarettisten kann man das auch manchmal beobachten, die sprechen dann irgendjemanden in der ersten Reihe an, erkundigen sich nach seinem Namen, um sich dann während des ganzen Programms spöttisch auf denjenigen zu beziehen. Die so Ausgewählten müssen dann „Humor“ haben und über ihre unfreiwillige Prominenz selbst lachen, sonst sind sie völlig untendurch. Unangenehm. Bei einem Symphoniekonzert fordert einen doch auch keiner auf, mal eben die erste Geige zu spielen.

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  3. Ja, das hasse ich auch total. Hab ich auch schon öfter gesehen.
    Ganz üble Masche.
    Übrigens finde ich auch oft die Atmosphäre bei Lesungen grauenhaft. So bewußt intellektuell.
    Und dieses Publikum dazu.
    Ehrlich gesagt, ich glaube „Hurz“ hätte man an vielen deutschen Orten drehen können.

    Ach ja, mir fällt was ein, wo ich Publikumseinbeziehung witzig fand: ein Londoner Straßenkünstler, der zeigen wollte, wieviel Power in Frauenstimmen steckt. Er ließ uns alle im Chor schreien, kurz nur, das war witzig und hob niemanden speziell heraus und setzte auch keinen herab.
    Und die Atmosphäre stimmte.

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  4. Zu Lesungen gehe ich gar nicht mehr, nicht so sehr wegen der Atmosphäre, sondern weil ich keine Lust habe, für eine Werbeveranstaltung Eintritt zu bezahlen. Außerdem geht mir immer meine Aufmerksamkeit flöten, und dösen kann ich auch zu Hause. 😉 „Krawehl Krawehl“
    Demnächst werde ich mal ein Poetry Slam versuchen, live war ich noch nie bei einem. Ich bin zwar sehr skeptisch, aber mal sehen.

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  5. In der Tat sehr experimentell, was Du da schilderst. Vielleicht wurden einfach die Schauspieler nicht gut genug bezahlt, um den Text auswendig lernen zu wollen ;). Diese „mittendrin statt nur dabei“-Geschichten verabscheue ich auch und war bei keiner mehr, seit ich nicht mehr muss (weil eine hochgradig verrückte Deutschlehrerin mich zu derlei „Kulturgenuss“ zwingt *traumaschalter aus*). Aber Poetry-Slam kann ich empfehlen. Wobei es natürlich aber auch darauf ankommt: kann super sein, aber auch grottenschlecht. Trotzdem eine der Strömungen, bei der ich nicht undankbar bin, dass sie aus Amiland zu uns rübergeschwappt ist.

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